Von Dagmar Henn
Das muss ansteckend sein. Inzwischen verbreitet sogar Bundeskanzler Olaf Scholz dieses Märchen. Die Tagesschau zitiert seinen Vorwurf, Merz und die Union hätten “einen Konsens gebrochen, der in der deutschen Nachkriegsdemokratie bisher immer getragen hat: Keine Zusammenarbeit mit den extremen Rechten.”
Dreist gelogen. Die Geschichte der Bundesrepublik sah völlig anders aus. Nur so mal als Hausnummer aus der Verwaltung: im Innenministerium in Bonn, so ergaben historische Forschungen, lag “der Anteil ehemaliger Mitglieder der NSDAP zeitweise bei 66 Prozent”. Dieser Wert wurde vermutlich nicht einmal während der zwölf Jahre Naziherrschaft selbst erreicht.
Eine Kontinuität, die dem berüchtigten Grundgesetz-Artikel 131 zu verdanken war, den Adenauer 1951 hinzufügen ließ (da war die Bundesrepublik gerade mal zwei Jahre alt):
“Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, sind durch Bundesgesetz zu regeln. Entsprechendes gilt für Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und aus anderen als beamten- oder tarifrechtlichen Gründen keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten. Bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes können vorbehaltlich anderweitiger landesrechtlicher Regelung Rechtsansprüche nicht geltend gemacht werden.”
Die Regelung sah dann so aus, dass alle wieder “ihrer früheren Stellung entsprechend” verwendet wurden, Kriegsverbrecher eingeschlossen. Man könnte das auch anders formulieren: in der westlichen Republik wurde vorübergehend mal an der Nazielite gekratzt, aber dann wurde sie bald wieder auf ihre alten Posten gesetzt. Im Justizministerium und andernorts sah es übrigens nicht besser aus als im Innenministerium.
Aber das ist doch die Verwaltung, könnte man da einwenden, und Scholz meint schließlich politische Zusammenarbeit. Und vermutlich wird er sich darauf hinausreden, dass man innerhalb ein und derselben Partei schließlich nicht von Zusammenarbeit reden könne.
Wie im Falle von Theodor Oberländer. Von 1953 bis 1960 Bundesminister für Vertriebene in der Regierung Adenauer. Und eine wirklich abstoßende Gestalt – er war der Verbindungsoffizier der Wehrmacht zum Bataillon Nachtigall, jener ukrainischen Einheit, die am 30. Juni 1941 das Massaker an der jüdischen Bevölkerung von Lemberg verübte. Ein überzeugter Nazi, der sich schon in den ersten Jahren der Naziherrschaft “wissenschaftlichen” Studien widmete, warum Juden und Slawen ausgerottet werden sollten.
Oberländer war einer der Verbrecher, die schon 1946 in die Organisation Gehlen geholt wurden, den Vorläufer des BND. Da befand er sich in Gesellschaft Seinesgleichen. Seine politische Karriere in der Bundesrepublik begann er in der FDP (auch vielerorts, z.B. in NRW, eine neue Heimat für alte Nazis), ging dann in den Bund der Heimatvertriebenen, und anschließend, als er schon zwei Jahre als Staatssekretär für Flüchtlingsfragen in Bayern hinter sich hatte, 1955 in die CDU. In keiner dieser Parteien war er der einzige Kriegsverbrecher.
Es war die DDR, die die Vergangenheit des Herrn Oberländer wieder in den Blick rückte. Mit einem Prozess in Abwesenheit, bei dem er, wegen der Ermordung mehrerer Tausend Juden und Polen in Lemberg, zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt wurde. Die Adenauer-Regierung versuchte natürlich, das Ganze kleinzureden. Wir sind noch in der Zeit vor dem ersten großen Auschwitz-Prozess 1963, der die Bundesrepublik erstmalig dazu brachte, überhaupt wahrzunehmen, was zwischen 1933 und 1945 geschehen war. 1961 schlug die Bonner Staatsanwaltschaft einen Prozess gegen Oberländer in der BRD noch nieder. Begründung? Es gebe keine Anhaltspunkte für die Anschuldigungen des DDR-Gerichts.
Der Fall Oberländer ist symptomatisch für die Zustände der Bundesrepublik unter Adenauer. Und nur, um die Idee zu unterbinden, es habe sich in den Jahrzehnten danach etwas wesentlich gebessert – selbst Wikipedia berichtet, 1993 habe das Landgericht Berlin das DDR-Urteil gegen Oberländer “aus formalen Gründen”, eben weil der Angeklagte nicht anwesend war, aufgehoben. 1996 eröffnete dann die Staatsanwaltschaft Köln ein Ermittlungsverfahren, das nach Oberländers Tod im Mai 1998 eingestellt wurde, ohne je zu einem Prozess geführt zu haben. Dabei ermittelte diese Staatsanwaltschaft nicht nur wegen des Pogroms von Lemberg, sondern auch noch wegen seiner Teilnahme an der Ermordung russischer Kriegsgefangener mit einer SS-Einheit im Kaukasus.
Zählt ein Theodor Oberländer als “extreme Rechte”? Gilt die Bestellung als Bundesminister als “Zusammenarbeit”? Das reicht noch nicht? Nehmen wir noch ein hübsches Beispiel.
Reden wir von Hans Josef Maria Globke, Chef des Bundeskanzleramts unter Adenauer von 1953 bis 1963. Dieser Herr war Jurist, und derart leidenschaftlicher Antisemit, dass er schon vor 1933 an entsprechenden Gesetzen arbeitete. Der Höhepunkt seiner juristischen Karriere war die Mitarbeit am den Nürnberger Rassengesetzen. Das war mitnichten unbekannt, auch hier kann man sich ausnahmsweise ein Zitat aus Wikipedia gönnen: “Im In- und Ausland wurde er deshalb immer wieder scharf angegriffen, von der Bundesregierung, dem BND und der CIA aber stets geschützt.”
Übrigens war dieser Nazi nicht einmal Mitglied der NSDAP; in die wurde er nicht aufgenommen, weil er zuvor Mitglied des Zentrum gewesen war, rein zufällig die Partei der Weimarer Zeit, aus der auch Adenauer kam. Die Briten setzten ihn schon 1945 als Rechtsberater ein… Später, als Chef des Bundeskanzleramts, hatte er mit vielen anderen seiner Sorte zu tun, schließlich war er damit für alle bundesdeutschen Geheimdienste zuständig, eben auch für den BND.
Globke war auch ins Visier des hessischen Staatsanwalts Fritz Bauer geraten, eine der wenigen entscheidenden Personen, die die Kontinuität des Nazistaats in der Bundesrepublik sichtbar machten. Er leitete ein Ermittlungsverfahren gegen Globke ein; Adenauer gelang es allerdings, dieses Verfahren niederzuschlagen.
Globke war der typische Schreibtischtäter. Er hatte persönlich kein Blut an den Händen, aber die von ihm mitverfassten Gesetze schufen die Grundbedingungen der Judenverfolgung. Unschuldig ist etwas anderes. Und, gilt ein Hans Globke als “extremer Rechter”, mit dem man nicht zusammenarbeiten dürfte?
In den Jahren von 1961 bis 1965 war jeder vierte Bundestagsabgeordnete Mitglied der NSDAP gewesen. Auch in den Landtagen gab es genug davon, selbst in der SPD. Wo fängt sie nun an, die “Zusammenarbeit mit der extremen Rechten”?
Nehmen wir den Kanzler der Großen Koalition von 1966 bis 1969. An dieser war die SPD beteiligt. Kurt Georg Kiesinger war Mitglied der NSDAP seit seinem Referendariat im Jahr 1933 und später im Auswärtigen Amt für die Überwachung des ausländischen Rundfunks zuständig, wie auch für die Verbindung zu Propagandaminister Goebbels. Dieser Großen Koalition verdankte die Bundesrepublik die Notstandsgesetze, die gegen großen öffentlichen Widerstand durchgesetzt wurden. Kiesinger war übrigens zum Zeitpunkt seines Eintritts in die NSDAP Mitglied einer katholischen Studentenverbindung, die für die Zusammenarbeit der Katholiken mit den Nazis warb.
Dann gab es auch noch die ganzen Wirtschaftsgrößen, von denen nur eine Handvoll in den Nürnberger Prozessen verurteilt wurde. “Zusammenarbeit mit der extremen Rechten”? Im Verhältnis zu den wenigen bundesdeutschen Politikern, die auf eine Vergangenheit im Widerstand gegen die Nazis verweisen konnten, stellt sich die Frage eigentlich eher anders herum – mit wem die extreme Rechte zusammenarbeitete.
So ging das bis ins Jahr 1981, als endgültig die letzten zwei führenden BRD-Politiker mit Nazivergangenheit abtraten, der Baden-Württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger und der bayrische Innenminister Alfred Seidl. Zufällig genau zu dem Zeitpunkt, als die verbliebenen Vertreter dieser Generation das Pensionsalter erreichten. Erst als sie nicht mehr in Amt und Würden waren, begann in der Bundesrepublik die ernsthafte Erforschung dieser Kontinuität, die dann in Zahlen wie der oben erwähnten aus dem Innenministerium gipfelte.
Womit sich die Frage, ob es tatsächlich je einen “Nachkriegskonsens” gab, nicht mit “extremen Rechten” zusammenzuarbeiten, bezogen auf die Bundesrepublik einfach beantworten lässt: es gab ihn exakt ab dem Zeitpunkt, als die Originalnazis aus Altersgründen nicht mehr zur Verfügung standen. Dafür wurde spätestens ab 1989 mit der Wiederbelebung des Antikommunismus der Adenauer-Zeit bereits wieder der Boden bereitet, um nachwachsendes Personal dieser Geschmacksrichtung mit offenen Armen aufzunehmen. Was ja dann nach dem Putsch in der Ukraine 2014 auch geschah. Bis hin zur Übernahme der ukrainischen Version von “Heil Hitler” durch eben jenen Bundeskanzler Scholz, der von diesem “Nachkriegskonsens” fantasiert.
Es ist fast so, als sei die Amnesie, die die Adenauer-Republik bezogen auf die Nazijahre pflegte, einfach nur ein paar Jahre in der Zeitleiste vorangerutscht und hätte sich jetzt über die Adenauer-Jahre gelegt, die mit einem demokratischen Heiligenschein versehen werden, der ihnen beim besten Willen nicht zusteht. Die anständigen Sozialdemokraten jener Zeit – die es durchaus gab, wie Gustav Heinemann, der von 1969 bis 1974 Bundespräsident war – haben ihr Leben lang gegen diese adenauersche Mischung aus Biedermännern und Verbrechern angekämpft. Heinemann hat sich sicher im Grab umgedreht, als seine SPD Jahrzehnte danach einen verbiesterten Antikommunisten und Naziverharmloser wie Joachim Gauck an diese Stelle setzte.
Nun, sich die Geschichte zurechtzulügen ist Mode im heutigen Deutschland. Und immerhin passt das Ergebnis, das Scholz präsentiert, zu seinen sonstigen Verzerrungen. Nur der Rest des Landes sollte wissen, dass der wirkliche “Nachkriegskonsens” ganz anders aussah. Eher so: lass du mir meine Nazis, lass ich dir deine.
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