
Von Astrid Sigena
Er hat es wieder getan. Das Ceterum censeo des NATO-Generalsekretärs Mark Rutte, wer nicht gezwungen sein will, Russisch zu lernen, müsse aufrüsten, ist bereits berüchtigt. Immer wieder droht Rutte damit denjenigen, die sich von der Notwendigkeit einer Militarisierung der europäischen Gesellschaften aufgrund einer vermeintlichen russischen Gefahr noch nicht überzeugt zeigen.
An diesem Donnerstag war es mal wieder so weit, diesmal in Berlin (RT DE berichtete). Den Deutschen drohte Rutte mit dem Verlust ihrer Muttersprache, sollten sie sich nicht der Aufrüstung gegen Russland anschließen:
“Ich weiß, dass auch in Deutschland einige Leute fragen, ob wir das wirklich tun müssen. Ja. Wenn Sie die deutsche Sprache lieben und nicht Russisch sprechen wollen. Das ist entscheidend. Es ist ein sine qua non (eine unerlässliche Voraussetzung), denn sonst wird dieser Typ nicht mit der Ukraine aufhören.”
Mit Logik ist dem nicht beizukommen. Etwa mit dem Argument, dass es abwegig ist, einem russischen Präsidenten mit immer noch vorzüglichen Deutschkenntnissen (auch wenn sein letzter Aufenthalt in Deutschland schon etwas zurückliegt) Abschaffungswünsche bezüglich der deutschen Sprache zu unterstellen. Es sind vielmehr die gehässigen Sanktionen und Einreiseerhürden der EU, die verhindern, dass russische Schüler und Studenten, die Deutsch lernen, ihre Sprachkenntnisse in Deutschland vertiefen können.
Selbst wenn man die den Russen durch Rutte irreführend attestierten Expansionswünsche ernst nehmen wollte: Gibt es den Verfechtern dieser Theorie nicht zu denken, dass die Sprachen Finnisch, Estnisch, Lettisch und Litauisch immer noch existieren? Dies trotz (oder gerade wegen?) einer jahrhundertelangen Herrschaft Russlands über ihre Verbreitungsgebiete. Gelegentliche kleinliche Maßnahmen unter zaristischer Herrschaft (wie das Verbot lateinischer Lettern im heutigen Litauen) hatten keine Auswirkung.
Nein, Gefahr droht dem Deutschen von einer ganz anderen Seite, nämlich von innen.
So thematisierte die Oppositionsführerin im Bundestag, Alice Weidel von der AfD, bei der Generaldebatte den hohen Ausländeranteil an deutschen Schulen und sprach von einem “Offenbarungseid”. In 275 bayerischen Schulklassen befinde sich kein einziges Kind mehr mit deutscher Muttersprache. Die Migrationskrise bringe ganze Generationen um ihr Recht auf ordentliche Schulbildung (Minute 3:38). Die Deutschen verlören ihre Heimat, so Weidel, die sich dabei auf eine Anfrage des bayerischen Landtagsabgeordneten Markus Walbrunn bezüglich des Anteils an Nichtmuttersprachlern in bayerischen Regelklassen bezog.
Walbrunns Schlussfolgerung angesichts der Zahlen der bayerischen Staatsregierung:
“Wer zu Hause kein Deutsch spricht, wird sich nicht nur selbst schwerer tun, dem Unterricht zu folgen, er gefährdet letztlich auch den Bildungserfolg seiner Klassenkameraden, durch die zusätzliche Aufmerksamkeit, die im seitens der Lehrer gewidmet werden muss.”
Diese Zahlen wurden in der Mainstreampresse zwar schöngeredet, sie weisen nichtsdestotrotz auf die Schwierigkeiten hin, die Lehrern beim Vermitteln des Schulstoffes gerade im Deutschunterricht heutzutage begegnen – vor allem, wenn man bedenkt, dass Bayern nicht das Bundesland mit dem höchsten Migrantenanteil ist. In NRW gibt es derzeit einen Vorstoß der schwarz-grünen Regierungsparteien im Landtag, Schulprüfungen nicht mehr allein auf Deutsch abzuhalten – sehr zum Missfallen der NRW-Schulministerin. Hintergrund sind natürlich (wie könnte es anders sein) die mangelhaften Deutschkenntnisse vieler Schüler.
Der Pessimismus, was die Zukunft des deutschen Spracherwerbs betrifft, kommt nicht allein von rechts, wie man meinen könnte. Ende November dieses Jahres veröffentlichte die eher links zu verortende (also tendenziell zuwanderungsoffene) Lehrergewerkschaft GEW einen Brandbrief hessischer Grundschullehrer an das Kultusministerium dieses Bundeslandes. Darin beklagten die Pädagogen die Arbeitsbedingungen an hessischen Grundschulen: Sie seien mittlerweile an ihre Belastungsgrenze gelangt. Neben psychischen und physischen Auffälligkeiten der Schüler, Entwicklungsstörungen (viele können bei der Einschulung noch keinen Stift halten oder sich die Schuhe schnüren), Vernachlässigung durch die Eltern und weiteren belastenden Zeiterscheinungen werden auch die negativen Auswirkungen der Massenmigration thematisiert. Durch die Zuteilung von Kindern mit nichtdeutscher Herkunftssprache in den Regelunterricht sei “ein binnendifferenziertes, methodenreiches, grundschulgemäßes Arbeiten kaum noch möglich”.
Wenn schon die GEW Alarm schlägt und – wenn auch etwas verklausuliert – den hohen Ausländeranteil in den Klassen thematisiert, muss die Lage wirklich dramatisch sein!
Nun sollte man nicht schwarzsehen: Die Mehrzahl dieser Kinder wird es im Laufe der Zeit vermutlich noch lernen, sich auf Deutsch zu verständigen. Die Frage ist nur: auf welchem Niveau? Werden sie jemals fähig sein, einen vor einigen Jahrzehnten oder gar im vorletzten Jahrhundert verfassten deutschen Text zu verstehen?
Im Frühjahr diesen Jahres führte das Nationaltheater Mannheim Johann Wolfgang von Goethes “Faust” in einfacher Sprache auf. Man wolle damit “die Tragödie über die Suche nach Erkenntnis möglichst vielen Menschen zugänglich” machen, hieß es als Begründung. Ein hehres Ziel. Allerdings bleibt – wenn man Weltliteratur nur als inhaltliches Kondensat mit gelegentlichen Einsprengseln von Originalzitaten anbietet – dem Publikum der Einblick verschlossen, bis zu welcher Stufe sprachlichen Adels sich das Deutsche emporschwingen kann. Um den wahren Goethe werden die Zuschauer betrogen.
Und das ist kein Einzelfall: Auch Goethes Briefroman “Die Leiden des jungen Werther” wird auf dem Buchmarkt schon in einfacher Sprache angeboten. Wenn Goethe überhaupt noch gelesen wird. Seit dem Schuljahr 2024/25 ist das Hauptwerk des Dichterfürsten keine Pflichtlektüre an bayerischen Gymnasien mehr.
Es wäre ungerecht, den Einbruch der sprachlichen Fähigkeiten bei an deutschen Schulen unterrichten Schülern allein den Ausländerkindern anzulasten. Das sprachliche Niveau scheint auch bei einheimischen, “biodeutschen” Schülern nachzulassen. Einigen unter ihnen fällt sogar in der gymnasialen Oberstufe die Bildung eines logischen Satzzusammenhangs mithilfe von Nebensätzen schwer. Der übermäßige Konsum von Fernsehen und Videospielen tut ihrer sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der jungen Generation womöglich nicht gerade gut.
Wie dem auch sei, fest steht, dass sich die Deutschkenntnisse von Neuntklässlern an deutschen Schulen einer IQB-Studie von 2022 zufolge in besorgniserregender Weise verschlechtert haben, während dies bei den Englischkenntnissen nicht der Fall ist. Damals verfehlte jeder dritte Schüler die Mindeststandards in den Kompetenzen Lesen und Zuhören. Dies dürfte sich bis heute, wo die betreffenden Schüler sich in der Oberstufe oder in der Berufsausbildung befinden, nicht geändert haben. Es geht nicht einmal darum, hypotaktische Sätze im Stil des dafür berühmten Thomas Mann selbst bilden zu können – wünschenswert wäre wenigstens, dass die Hypotaxe des Literaturnobelpreisträgers, der in diesem Jahr seinen 150. Geburtstag sowie seinen 70. Todestag hatte, im deutschen Original auch in der nächsten Generation Deutscher noch verstanden werden.
Die Liste der Bereiche, in denen Deutsch auf dem Rückzug ist, ließe sich fortsetzen. So soll es in Berlin vermehrt nur noch englischsprachige Kellner geben. Und Deutsch als Wissenschaftssprache ist schon länger auf dem Rückzug. Die Ludwigs-Maximilian-Universität in München bietet in diesem Wintersemester 52 englischsprachige Studiengänge an. Auch die universitäre Neugründung in Bayern, die Technische Universität in Nürnberg, führt als “University of Technology Nuremberg” (UTN) den Vorrang des Englischen gleich im Namen. Auch hier sieht die AfD Anlass zur Sorge: Der bayerische Landtagsabgeordnete Benjamin Nolte erkennt Tendenzen zu einer Marginalisierung des Deutschen als Wissenschaftssprache im eigenen Land. Insbesondere in Bayern fänden Forschung und Lehre oft nur noch auf Englisch statt. Dies führe zu einer Verarmung der Wissenschaftskultur und zu einer Benachteiligung deutscher Forscher.
Vorreiter ist übrigens die Politik. Immer wieder gibt es Forderungen von Politikern der Altparteien, das Englische als zweite Verwaltungssprache einzuführen. Zuletzt tat dies die FDP in ihrem Bundestagswahlprogramm 2025. Und im einst zwischen Deutschland und Frankreich heiß umkämpften Saarland soll das Französische einem Strategiepapier von 2014 zufolge zur Verkehrssprache neben dem Deutschen werden – mit Zweisprachigkeit in Verwaltung und Schulen. Zuletzt wagte im September der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister Claus Ruhe Madsen von der CDU ein Plädoyer für Englisch als zweite Amtssprache.
Gefahr droht dem Deutschen also eher von den eigenen Politikern. Aus Russland jedenfalls nicht.
Eine Gelegenheit zur Förderung der deutschen Sprache hat der Niederländer Rutte schon mal ausgelassen: Bei seinen Stellungnahmen und Diskussionsbeiträgen im Rahmen seines Berlin-Besuches bediente er sich des Englischen, nicht des Deutschen (wenn man von Floskeln wie “lieber Friedrich” gegenüber dem deutschen Bundeskanzler während der Pressekonferenz absieht). Dabei beherrscht der ehemalige niederländische Ministerpräsident auch die Sprache seines Nachbarlandes, wie ein Grußwort in flüssigem Deutsch zum FDP-Parteitag 2011 beweist. Sollte Rutte in der Zwischenzeit seine Deutschkenntnisse verloren haben, wäre es an der Zeit, sie aufzufrischen. Die Verteidigung der deutschen Sprache fängt bei ihm selbst an.
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