Von Alexej Danckwardt
Russlands Filmindustrie öffneten sich mit dem Weggang Hollywoods aus russischen Kinosälen unverhoffte Möglichkeiten. Die Bilanz nach bald drei Jahren fällt angesichts massiver staatlicher Unterstützung quantitativ beachtlich, qualitativ jedoch bescheiden aus. Die Kinoprogramme werden vor allem mit Neuverfilmungen russischer Märchen und sowjetischer Kinderfilme gefüllt, für die Erwachsenen kommt die eine oder andere Neuinterpretation literarischer Meisterwerke hinzu. Nur wenig wirklich Originelles vollbrachten die russischen Filmemacher, und immer und überall dominiert handwerkliches Mittelmaß.
Trotz vereinzelt guter Ansätze hapert es an allem: den Spezialeffekten, den Schauspielkünsten, visionären Regisseuren, vor allem aber an guten Szenarien. Selbst den besseren Filmen fehlt das gewisse Etwas, die kleine Prise Pfeffer. So verkommt eine ansonsten gelungene Komödie – “Die Schwiegermutter” – gegen Ende zur Familienwerteschnulze, statt mit einem kleinen, gern auch harmlosen, Streich am glücklich vereinten Familientisch das humoristische Genre zu halten.
Eine weitere Schöpfung mit Anspruch auf Originalität – “Das Ende von Slawa” (Wortspiel: Slawa ist im Russischen nicht nur der Vorname des Hauptprotagonisten, sondern auch Ruhm) –, die 90 Minuten lang einen an Genialität kratzenden Bogen von einer sozialkritischen und klamaukigen Komödie zum düsteren Thriller vollzieht, verkommt in den letzten fünf Minuten ebenfalls zur Familienwerteschnulze. Gibt es vom Staatlichen Filmfonds Russlands etwa zusätzliche Fördermittel für die Propaganda von Familienglück, egal wovon der Film handelt?
Das größte Problem russischer Regisseure und Szenaristen ist indes ein altes: Es ist die tief verwurzelte Verachtung der Intelligenzija für das eigene Land und seine Geschichte, insbesondere deren sowjetische Epoche. Sie – die sowjetische Geschichte – ist reich an Erzählungen, die ein gutes Filmszenario ausmachen würden. Doch wenn sie überhaupt aufgegriffen werden, verkneifen es sich nur wenige Szenaristen, bösartige Seitenhiebe einzubauen, die nichts mit der historischen Wahrheit zu tun haben und den Zuschauer wie den Filmkritiker staunen lassen.
Nicht jedes Beispiel ist so krass wie das hier besprochene, doch deutsche Soldaten werden in modernen russischen Kriegsfilmen nicht selten sympathischer dargestellt als sowjetische Politkommissare und Offiziere der Tscheka. Deren cineastische Zerrbilder sind regelmäßig dumm, ungehobelt, Säufer und prügeln und foltern bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Nicht, dass es an der Sowjetunion nichts zu kritisieren gäbe. Es gibt tragische Schicksale, die auch erzählt werden müssen, vorausgesetzt, auch die andere, helle Seite wird nicht umgangen. Was sauer aufstößt, sind elementare Lügen und die Verwendung immer wiederkehrender Klischees, die teilweise dümmer sind als jene aus Hollywood, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit.
Russen rätseln seit Jahrzehnten, was die Sowjetunion jenen schon vor 1991 prominenten Künstlern angetan hatte, die nach ihrem Ende nichts anderes tun, als Gift über sie zu versprühen. Mit zweifelhaftem künstlerischem Wert und ohne nennenswerten kommerziellen Erfolg übrigens. Die Filmgröße Nikita Michalkow ist da das bekannteste Beispiel: Sein Vater dichtete die sowjetische Hymne, er dreht Filme, die die sowjetische Geschichte ins Lächerliche ziehen.
Was die Sowjetunion der 1980 in Leningrad geborenen Aljona Reiner angetan hat, die bei deren Ableben gerade die Grundschule absolviert hatte, ist nicht minder rätselhaft. Ist es wieder Rache dafür, dass der Brei im Kindergarten nicht süß genug war? Die TV-Serie “Der Chor”, bei der sie 2019 Regie führte und an deren Szenario sie mitschrieb, wich jedenfalls so sehr von der jedermann bekannten Wahrheit ab, dass sich fünf Jahre lang kein TV-Sender fand, der das Machwerk senden wollte. Erst im September 2024 veröffentlichte ein Streamingdienst den Zwölfteiler.
Das Sujet entwickelt sich in Moskau der 1970er-Jahre: Ein dreizehnjähriger Junge, Juri, lebt in ärmlichen Verhältnissen in einer von mehreren Familien geteilten Wohnung – eine riesige Schlange vor dem WC gleich am Anfang repräsentiert das. Die Eltern sind geschieden, die Familie besteht aus Juris alleinerziehender Mutter, seinem Großvater, einem Kriegsveteranen, und einer jüngeren Schwester.
Als eine junge engagierte Musiklehrerin das Unterrichten von Juris Schulklasse übernimmt, zeigt sich sein Talent: Er singt ohne jede musikalische Vorbildung Lieder aus dem Repertoire von Robertino Loretti nach, in einem Bubensopran, das dem Lorettis in nichts nachsteht.
Zur gleichen Zeit baut ein vom Leben gezeichneter Musikenthusiast einen Kinderchor auf und kämpft dabei gegen die Mühlen der Parteibürokratie. Seine Gegenspieler sind ein opportunistischer Kulturbürokrat, der nicht das geringste Risiko eingehen will, und eine besonders linientreue Funktionärin, die nur Revolutionslieder als zulässiges Repertoire betrachtet und selbst diese aus dem Programm streichen lässt, wenn der Komponist einen gewünschten offenen Brief nicht unterzeichnet. Zum Glück für den Chor hat Letztere selbst einen Rivalen im staatlichen Fernsehen, der ihn mitten in einer Hörprobe in die wichtigste Musiksendung des Landes einlädt, kurz bevor Frau Radikalinski seine Auflösung verkünden kann.
Eine Chance bekommt auch Juri, der zwar den Chorleiter mit seinem Vorsingen nicht überzeugt, aber als Solist für das vom Fernsehen bestellte beliebte Kinderlied unentbehrlich wird, als der ursprünglich Auserwählte wegen Stimmbruchs ausfällt.
So weit, so gut. Bis etwa zur Hälfte der Serie ist sie eine mit beliebten Liedern unterlegte Erzählung von Juris schwierigem Weg zur Musik. Auch die um andere Chormitglieder aufgebauten Nebenerzählungen lassen (noch) nichts Böses erahnen. Da ist zum einen der Sohn eines überkorrekten Karrierediplomaten, in dessen Familie sich ein doppelter Ehebruch anbahnt. Zum anderen die Tochter eines alleinerziehenden Physikers, der sich allmählich zum Gegenspieler des Diplomaten entwickelt.
Ganz und gar nicht idyllisch fällt die zweite Hälfte der Serie aus. Wendepunkt wird eine Chorprobe in einer Kirche mit “Ave Maria”. Das und wilde Gerüchte um den Selbstmord eines Chormädchens im Vorleben des Chorleiters geben der Parteifunktionärin endlich das nötige Futter, um dessen Absetzung durchzusetzen. Die jungen Sänger rebellieren und verlassen den Chor, der verbliebene Rest wird einem “politisch korrekten” Tanz- und Singensemble angeschlossen. Dessen Leiter wird sich in der letzten Folge als jener Pädophile entpuppen, der für den Freitod des eben erwähnten Chormädchens verantwortlich war und ein weiteres schwängerte.
Von Folge zu Folge wird die Erzählung nun abstruser und chaotischer. Juri, inzwischen im Stimmbruch, organisiert zusammen mit der Musiklehrerin einen Schulchor, singt aber selbst nicht mit. Der “sowjetische Robertino Loretti” wird erst im Finale wieder singen, steht bis dahin in der Regel sinnlos in der Gegend herum und zieht ein trauriges Gesicht. Was dem talentierten jungen Schauspieler Oleg Tschugunow, der die Rolle übernahm, großes Unrecht tut, vermochte er doch in den ersten Folgen sein reales Vorbild (dazu sofort mehr) bis in die kleinste Geste originalgetreu nachzuspielen.
Juris Großvater wird durch die Mutter und den zwischenzeitlich hinzugekommenen Stiefvater, der zu allem Überfluss auch noch ein Doppelleben führt, gegen seinen Willen in ein Altersheim eingeliefert, flieht jedoch von dort. Ein Ex-Chormitarbeiter organisiert um ihn herum einen Veteranenchor. Der gefeuerte Chorgründer fristet unterdessen das Leben eines bettelarmen Alkoholikers.
Und der Diplomat, der kurz vor der Ernennung zum Botschafter in London steht, besticht einen Psychiater, der seine Noch-Frau für psychisch krank erklärt, und erreicht auf nicht näher dargestellten Wegen die Verhaftung seines Nebenbuhlers, des Physikers, durch das KGB.
Nun, das alles würde unter der Rubrik “künstlerische Freiheit” gerade noch durchgehen (mit sowjetischen Realitäten hätte es auch dann nichts zu tun, sangen die Kinderchöre doch auch in der UdSSR der 1970er “Ave Maria” und traten etwa im Rigaer Dom auf), würde die Serie nicht für sich in Anspruch nehmen, die Geschichte des bekanntesten und beliebtesten Kinderchors der UdSSR zu erzählen – des 1970 gegründeten Großen Kinderchors des Allunionsradios und Zentralen Fernsehens.
Dafür steht das Liedrepertoire, vor allem aber der legendäre TV-Auftritt mit dem “Geburtstagslied von Krokodil Gena”, mit dem der landesweite Erfolg des Großen Kinderchors begann. Das Lied kennt jeder Russe, es wird bei jedem Kindergeburtstag und so manchem 50-jährigen Jubiläum gesungen. Der TV-Auftritt des Chors mit diesem Lied in der Sendung “Lied des Jahres 1971” ist legendär. Das Publikum erzwang damals – ein einmaliger Vorgang in jener Zeit – eine Zugabe, und die Serie stellt dies ebenso originalgetreu nach wie andere Details des historischen Auftritts, inklusive des aus den Zuschauerreihen dirigierenden Chorleiters.
Wer noch Zweifel hat: Kein anderer Kinderchor trat in der jährlichen Sendung “Lied des Jahres” auf, der Große Kinderchor dafür nahezu jährlich.
Im wirklichen Leben wurde Chorgründer Wiktor Popow selbstverständlich nie gekündigt: Er leitete den Großen Kinderchor ohne Unterbrechung von 1970 bis 2008, der immer noch existierende Klangkörper trägt heute seinen Namen. Er war kein Säufer und stand auch nie in Verdacht, Kinder zu missbrauchen. Russen lieben diesen Chor und seine Lieder, und Reiner spuckte mit ihrem Machwerk jedem von ihnen in die Seele, auf das Heiligste, das jeder von uns als Stück seiner Kindheit im Herzen bewahrt. Künstlerische Freiheit ist dafür keine Rechtfertigung, sie muss dort enden, wo dreistes Lügen über reale Geschichte und reale Schicksale beginnt.
Auch die Erklärung, die Reiner in einem Interview kurz vor Sendestart gab, sie habe nicht das historische Vorbild Popow, sondern einen abstrakten “starken unabhängigen Schöpfer” (egomanisches und asoziales Lieblingsthema russischer Intelligenzija) zeichnen wollen, verfängt nicht. Dies hätte sie im modernen Setting tun können, ohne den berühmten sowjetischen Chor dafür in Beschlag zu nehmen, dessen Popularität und Lieder sie und der Filmproduzent bewusst und einschaltquotenorientiert ausbeuteten.
Es würde sich übrigens durchaus lohnen, die Geschichte von Juris Vorbild Serjoscha Paramonow – dem originalen “sowjetischen Robertino Loretti” – in einer TV-Serie zu erzählen. Anders als der fiktive Juri wurde er mit Einsetzen des Stimmbruchs durch den sowjetischen Staat nicht fallen gelassen, sondern in einer spezialisierten Musikschule eingeschult, wo er die ihm fehlende theoretische Ausbildung nachholen sollte. Er durfte eine Band gründen, mit der er sich allerdings die Stimme ruinierte und nie mehr in die Höhen aufstieg, die er als erster sowjetischer Kinderstar erlebt hatte. Der wirklich tragische Teil seiner Lebensgeschichte begann jedoch mit dem Zerfall der Sowjetunion: Im allgegenwärtigen Überlebenskampf des nun kapitalistischen Russland schuftete er sich mit Auftritten unter freiem Himmel zu Tode und starb 1998 im Alter von 36 Jahren an Herzversagen und Pneumonie.
Das hätte den zweiten Teil der Serie ausmachen müssen, aber die russische Intelligenzija liebt im Gegensatz zur Mehrheit des Volkes die 1990er-Jahre und lässt keinen Schatten auf sie kommen. Die zutreffende Diagnose stellte ihr einst Wladimir Lenin: “Schrecklich weit entfernt sind sie vom Volk.”
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