Von Sergei Zwetajew
“Wenn wir nur, wenn wir nur, wenn wir nur …”
… uns im Damals, in Breschnews Ära der sogenannten “dümpelnden Stagnation” wiederfinden könnten. Nein, nicht im wörtlichen Sinne – sonst hat der geehrte Leser mich gefressen, bevor er den vorliegenden Text auch nur zu Ende liest. Doch wie ein Verwandter des KPdSU-Generalsekretärs, des “lieben Leonid Iljitsch”, es treffend ausdrückte:
“In jener Ära ist so viel gebaut worden, dass wir es von heute an nicht einmal in 20 Jahren schaffen könnten, es auch nur zu verputzen!”
Und das ist zu einem so großen Teil Wahrheit – bittere Wahrheit! –, dass sie nicht einmal bestritten werden kann.
Ab dem Jahr 1964 hatte Leonid Breschnew offiziell die gesamte Macht im Sowjetlande inne, und eine neue Epoche brach an, die 18 Jahre andauern sollte. Prioritäten lagen in dieser Epoche wohl am ehesten auf dem Humanismus – sowie (nach wie vor) auf etwas, das sich am besten durch folgende Phrase ausdrücken lässt:
“Alles Beste – den Kindern!”
Irgendwie hatten es die wahren Lenin-Jünger dann doch drauf, Großartiges zu vollbringen. Doch vergaßen sie dabei auch die Kleinen dieser Welt nicht – jene Kleinen, die, einmal herangewachsen, das Himmelsgewölbe hätten auf ihren Schultern stemmen sollen. Das rote Reich bedurfte sprichwörtlich des Titanen Atlas als Kollektiv und in jedem Einzelnen. Denn an Pygmäen war das rote Reich nicht interessiert, sofern man sie sprichwörtlich versteht – lediglich vom anthropologischen Standpunkt aus war dies durchaus der Fall.
All diese Wangenküsschen auf den Tribünen der Parteitage und anderen Versammlungen, während der Appelle der Jungpioniere oder in den Fabriken und Werken, die den Bau am Sozialismus als Prototypen des Kommunismus darstellten – ja, sie waren alle Ausdruck der besagten humanistischen Politik. Völlig ungerechterweise hielten sowohl einige Sowjetbürger als auch die meisten “Partner” außerhalb dieses Humanismus dies für eine Zahn- und Rückgratlosigkeit und langsam eintretende Demenz der Alten Garde, die einst das Unerreichbare erstürmte. Denn:
“Für Bolschewisten gibt es keine Festung, die sie nicht bezwingen würden!”
Breschnew ist gleichsam das Symbol für eine Zeit, als man sich in einem gesunden Maße mit der existierenden Sachlage abfinden konnte – geleitet von der Einsicht, dass das Bessere stets und ein unabänderlicher Feind des “lediglich” Guten ist. Breschnew schreibt man ein Zitat zu, das – ob es nun vom Wortlaut her stimmt oder nicht – die beste Bestätigung hierfür liefert:
“Die Berliner Mauer abreißen?! Aber nie im Leben! Da wird’s aber so was von rundgehen! Alles, was im Untergrund sitzt, wird auftauchen; all unsere Zechowiki werden von sich hören lassen! Die Mauer darf nicht bloß nicht zerstört – sie muss wie ein Heiligtum beschützt werden! Was reden Sie da, welche Reformen! Ich meinerseits habe Angst, zu laut zu niesen: Gott bewahre, damit ein Steinchen ins Rollen zu bringen – und mit diesem eine Lawine. Unsere Leute wissen nicht, was kapitalistische Beziehungen sind. Wirtschaftliche Freiheiten werden Chaos mit sich bringen. Da geht es dermaßen rund … Alle werden sich gegenseitig auffressen.”
Kommentare erübrigen sich. Zumal auch die 1990er-Jahre alles erschöpfend kommentiert haben.
Aber zurück zu den Titanen – zu den künftigen Titanen, den Kindern. Den unter einem glücklichen Stern Geborenen. Was wurde ihnen denn in den Kopf gesetzt, was in den Haferbrei gemischt, dass sie derart an ihre lichterfüllte und großartige Bestimmung glaubten? Denn sie glaubten daran! Glaubten es so lange, bis die Erwachsenen diesen Glaubenspfad verließen …
Ach, wissen Sie was? Es gab eine sowjetische Musical-Inszenierung von Robin Hood für Kinder, geschrieben von Sergei Sajaizki unter Verwendung von Gedichten von Robert Burns in der russischen Edition des Kinderbuchautors Samuil Marschak.
Dies ist ein sehr gutes, ein sehr richtiges Werklein. Wer möchte, der höre im Internet gern einmal rein. Es mag auch angehen, dass der eine oder andere Ostbürger unter den Lesern sie sogar als Schallplatte vom sowjetischen Musikverlag Melodija im Keller hat, oder ganz hinten im Schrank, oder in einem alten, halb vergessenen Koffer mit den anderen Kinderschallplatten. Wer weiß, womöglich hat sie jemand noch griffbereit.
Zusammen mit den anderen Schallplatten aus seiner Kindheit – dann ist der Boden nicht vergessen, auf dem man einst mit beiden Füßen stand.
Die russische Edition von Robin Hood nebst anderen Texten aus der Feder von Robert Burns, dem großen Dichter Schottlands, auf der dieses sowjetische Theaterstück basiert, mag der ebenso großartige Samuil Marschak recht eigenwillig gewirkt haben. Doch gerade um sie geht es hier, sie und keine etwaige deutsche Edition wird daher hier zitiert – in wiederum, es sei uns verziehen, deutscher Übersetzung:
Im Dorf geboren ward unser Held –
Doch kein Kalender auf der Welt,
Der diesen Tag in Ehren hält:
Wen kümmerte schon Robin?
…
Den Mädels, zu Hause eingesperrt,
Hat Robin gern’ den Schlaf verwehrt –
Doch zwanzig andern Makeln fern
Blieb dafür unser Robin.
Die Musik kam von Mark Karminski – und gesungen haben’s alle:
Der Sänger patriotischer Sowjetlieder Iossif Kobson, dessen “Kraniche” (hier können Sie eine von Tino Eisbrenner nachgedichtete und gesungene deutsche Version genießen) das Andenken an gefallene Soldaten vor allem des Großen Vaterländischen Krieges in Ehren halten.
Dann die russische “Miss Niedlich”, Klara Rumjanowa, die zahllosen Zeichentrickfiguren ihre Sprach- wie Gesangsstimme lieh und in Deutschland am ehesten durch Wolf und Hase beziehungsweise “Nu, Pogodi!” bekannt ist.
Oder Valentina Tolkunowa, die zum Beispiel die Stupsnäschen schlafender russischer kleiner Jungen so liebevoll besang, Jungs, die durchaus schon morgen “zum Schwänzen der Malstunde zu Fuß in den Weltraum türmen” könnten.
Ebenso liebevoll wie die urtypische russische Frau der Nachkriegszeit, die von jung an harte Fabrikarbeit verrichtete und dabei selbst im Alter eine Güte bewahrte, die frei von Boshaftigkeit war und vor den Menschen wie ihrem Gewissen stets rein blieb.
Ja, sogar Lew Leschtschenko höchstpersönlich, am besten bekannt durch die Lieder “Dieser Tag des Sieges” (hier findet sich eine durchaus brauchbare Übersetzung zum Mitlesen)
und “Für jenen Kerl” (“…, der versprach: ‘Ich kehr’ zurück, Mama!’“).
Sie werden in diesem Stück nahezu das gesamte Who’s Who der sowjetischen Estrada jener Jahre finden. Was Sie dafür nicht finden werden, ist ein Geschmäckle von Offiziösem jeglicher Art – so bekannt die Sänger und so leicht ihre Stimmen zu erkennen sind. Sie treten stattdessen als einfache Erwachsene auf, die den Kindern schlicht und ergreifend eine Gutenachtgeschichte erzählen. Zwar eine etwas schaurige, dafür aber sehr heroische, eine über Liebe und Treue, über Pflichtgefühl und Schulter-an-Schulter-Gefühl (das waren noch Worte!), darüber, dass der Mensch nicht vom Brot allein und erst recht nicht vom Geld allein, sondern von höherem Sinn und Bedeutung lebte, lebt und leben wird.
“‘Gruß euch, ihr Kerker königlich,
Wo Sklaven elend leben!
Es warten heut der Strick auf mich
Und glatte Galgenpfähle.’
So lustig und so abgebrüht
Spazierte er zum Galgen:
Im letzten Tanz
Zu letzter Stund’
Mit dem Kindergeist wurde da kein halbherziger Flirt getrieben, keine Bonbons in die Kinderöhrchen gesteckt: Denn Leben bedeutet Kampf – auch im Märchen, und die Gefahr dessen ist eben zuweilen tödlich. Wenn die Geschichte denn ein richtiges Märchen ist.
Diese richtigen Märchen, derart Erziehungscontent, wurde Tag für Tag verlegt, viele Jahre lang, in millionenfacher Auflage und auf allen möglichen Trägern. Und dass Kindern davon speiübel geworden wäre, daran kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern. Alle hörten gebannt zu. Ich hörte zu. Freunde und Kumpel, windköpfige Bengel wie ich, mit denen ich die Schulbank drückte, hörten zu. Man hörte zu – und verstand etwas sehr Wichtiges, so wichtig, dass einem das Verständnis darüber schon wehtat.
Im Feld vom Wetter heimgesucht,
Mein lieber Freund, mein armer Freund,
Gäb Zuflucht dir mein Umhangtuch
Vor Wind und Schnee und Kälteleid.
Und böte man mir auch die Welt
Mit Worten ‘Nimm, dies ist nun dein’:
Ob Lew Leschtschenko dies nur für sich selbst singt – oder auch hier gleich mit “für jenen Kerl”? … Jedenfalls hat in der Sowjetunion nicht nur Alexander Gradski ein Lied daraus gemacht.
Ach ja, auf der Hülle der Robin-Hood-Schallplatte wurde ein Vorwort aus der Feder von Jewgeni Leonow, dem russischen Winnie Puh, abgedruckt. Lesen Sie es ruhig laut vor – einfach, um den konzentrierten Geschmack der Epoche des sowjetischen Humanismus zu spüren:
Wir spotten viel. Nicht worüber wir sollten.
Und worüber wir es sollten … Schaffen wir nicht immer, zu lachen.
– So wird es einst, trotz alledem! – :
Übersetzt aus dem Russischen. Zusätzliche Musikbeispiele von RT DE.
Sergei Zwetajew ist russischer Buchautor und Publizist. Bei der russischen Redaktion von RT schreibt er vor allem zum Thema Kultur mit westlichen Rock- und Jazzkünstlern als einem seiner Schwerpunkte. Zwetajew führt außerdem den Telegram-Kanal “Selbst wie Kinder” zum Thema Erziehung und außerschulische Bildung.
Mehr zum Thema – Ein immer breiteres Zelt aufspannen – so funktioniert Russlands historisches Gedächtnis