Von Nikolai Storoschenko
“Das Ende der Flitterwochen” – so beschreiben die polnischen Medien zum Jahresende die unerwarteten Ergebnisse einer aktuellen soziologischen Umfrage über die Einstellung der Ukrainer gegenüber Polen und seinen Bürgern. Wie sich herausstellte, waren die Beziehungen im Jahr 2022 nahezu perfekt: 83 Prozent der Ukrainer hatten eine gute oder sehr gute Einstellung zu Polen. Doch 2023 hatten lediglich 63 Prozent der Ukrainer eine solche Einstellung, und in diesem Jahr sind es nur noch 41 Prozent. Derzeit betrachtet die Mehrheit der Befragten Polen neutral (53 Prozent).
Ein spürbarer Abschwung und das sogar in so kurzer Zeit. Und mit wem befindet sich die Ukraine eigentlich im Krieg? Nicht mit Polen, oder?
Polen ist seit Beginn der militärischen Sonderoperation der engste Verbündete der Ukraine. Es ist ein wichtiger logistischer Knotenpunkt für militärischen Nachschub. Dort befinden sich moderne Reparaturwerkstätten und Krankenhäuser. Polen gehört zu den Ländern mit der höchsten Konzentration von ukrainischen Flüchtlingen (mehr als 20 pro 1.000 Einwohner), was mindestens zweimal so hoch ist wie der EU-Durchschnitt (9,6 pro 1.000 Einwohner). Außerdem nahm gerade Polen zu Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine den ersten Flüchtlingszustrom auf. Damals erreichte die Zahl der Ukrainer, die einen vorübergehenden Asylstatus beantragten, 1,5 Millionen (heute sind es knapp eine Million).
Vor kurzem schätzte der polnische Präsident Andrzej Duda die Militärhilfe für die Ukraine seit dem Beginn der militärischen Sonderoperation auf 3,23 Milliarden Euro. Im Vergleich zur gesamten Finanzunterstützung scheint das nicht viel zu sein. Aber nicht alles lässt sich im Krieg in Geld messen. Und diese 3,23 Milliarden Euro aus Polen beinhalten über 350 Panzer und 14 Kampfjets. Das ist unvergleichlich mehr als die ausrangierten gepanzerten Polizeifahrzeuge zur Auflösung von Unruhen, die viele andere Verbündete der Ukraine zur Verfügung stellen.
Dabei nehmen die Sympathien auf beiden Seiten ab. Bereits im Sommer 2023 stieg die Popularität der Partei “Konföderation” unter den polnischen Wählern an. Eines der Hauptcharakteristika der Partei ist ihre antiukrainische Haltung und ihr Protest gegen die aktive Beteiligung Polens am russisch-ukrainischen Konflikt. Und wie die Soziologie zeigt, beginnen immer mehr Polen, diesen Standpunkt zu teilen.
Bereits im Sommer 2023 stellten die Soziologen einen Rückgang der Zahl der Befürworter einer uneingeschränkten Hilfe für die Ukraine fest (von 62 Prozent auf 42 Prozent). Darüber hinaus sprachen sich nur 21 Prozent der Befragten für eine langfristige oder unbefristete Unterbringung ukrainischer Flüchtlinge in Polen (einschließlich in ihren eigenen Haushalten) aus. Anfang 2023 sprachen sich noch 37 Prozent der Polen dafür aus. Aber schon damals waren 49 Prozent der Befragten gegen eine Verlängerung von Finanzhilfen für Flüchtlinge, obwohl anfangs nur 20 Prozent diesen Standpunkt teilten.
Nach einem Jahr wurde dieser Standpunkt von den Polen mehr als bestätigt. Der Anteil der Befürworter der Hilfe für die Ukraine fiel von 42 Prozent auf 31 Prozent. Auf 17 Prozent sank der Anteil derjenigen, die für die Aufnahme von Ukrainern in Polen plädieren. Fast alle Befragten (95 Prozent) sprachen sich für eine Kürzung der Flüchtlingsgelder aus.
Fairerweise muss man erwähnen, dass einige polnische Politiker die Frage der Finanzhilfe absichtlich verschärfen. Von den polnischen Staatsausgaben für die Ukraine in Höhe von 26 Milliarden US-Dollar gingen 5 Milliarden US-Dollar beziehungsweise 20 Milliarden Zloty direkt an Flüchtlinge: 15 Milliarden Zloty im Jahr 2022 und 5 Milliarden Zloty im Jahr 2023.
Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich die Situation mit den Flüchtlingen im Jahr 2023 bereits stabilisierte, werden sich die Ausgaben im laufenden Jahr wahrscheinlich auf dieselben 20 Milliarden Zloty belaufen (oder sogar weniger: Polen kürzte die Flüchtlingsauszahlungen in diesem Jahr erheblich). Allerdings decken die von den Ukrainern in Polen gezahlten Steuern diese Ausgaben selbst am unteren Rand der Schätzung mehr als ab (30,5 Milliarden Zloty für den Zeitraum 2022-2023 und geschätzte 45 bis 50 Milliarden Zloty für den Zeitraum 2022-2024). Mit anderen Worten: Der Streitpunkt liegt eindeutig nicht in der Geldfrage.
Abgesehen von der Finanzproblematik sind unter den Streitpunkten zwischen den beiden Ländern vor allem folgende zu erwähnen. Zunächst einmal sprechen sich die Polen zunehmend für eine Art Isolationismus aus, obwohl sie die der Ukraine bereits gewährte Unterstützung zu akzeptieren bereit sind. Womit sie jedoch definitiv nicht zufrieden sind, ist die (ihrer Meinung nach) unzureichende Dankbarkeit der Ukrainer, sowohl seitens der einfachen Flüchtlinge als auch seitens der ukrainischen Staatsführung.
Sowohl die einfachen Polen als auch die polnischen Politiker sind der Meinung, dass die Ukrainer alle Bemühungen Polens als etwas Selbstverständliches ansehen. Etwas, das keine Aufmerksamkeit und Dankbarkeit verdient. Und dann fordern sie immer mehr – wie Selenskij es gern tut.
Aber Polen hoffte offensichtlich, zumindest einen der seit langem bestehenden zwischenstaatlichen Streitpunkte zu lösen: das Problem der Verherrlichung der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN)* und der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA)* in der Ukraine und das damit verbundene Problem des historischen Gedenkens an die Opfer des Wolhynien-Massakers. Seit vielen Jahren bemühen sich die Polen um die Erlaubnis der Ukraine für die Durchführung von Suchaktionen, die Exhumierung und die Beerdigung der Leichen. Zudem soll die Haltung gegenüber diesen tragischen Ereignissen vereinheitlicht werden.
“Ich hatte vor kurzem ein ehrliches Gespräch mit meinem Kollegen, einem ehemaligen ukrainischen Diplomaten, und er machte mich auf Folgendes aufmerksam: Die Ukraine versteht nicht, was das eigentliche Ziel Polens ist […] Sie befürchtet, dass der Westteil der Ukraine mit einem Netz von Friedhöfen der Opfer der Ukrainischen Aufständischen Armee überzogen wird, wenn die Ukraine [der Forderung Warschaus nach Exhumierung der Opfer des Wolhynien-Massakers] nachgibt, sodass der Mythos über die UPA zerstört wird”, fasst der ehemalige polnische Botschafter in der Ukraine, Bartosz Cichocki, die Situation zusammen.
Offenbar hängt auch ein anderer wichtiger soziologischer Indikator mit dieser Thematik zusammen. Auf die Frage: “Warum hilft Polen der Ukraine?”, antworteten 20 Prozent der Ukrainer: “Weil es einen Teil unseres Landes als seinen eigenen betrachtet.” Im Jahr 2022 gaben nur 6 Prozent der Befragten eine derartige Antwort.
Das heißt, die Spannungen in der Ukraine zu dieser Thematik nehmen zu, was wiederum zu einem Anstieg der Spannungen in Polen führt.
Dies wirft ein weiteres komplexes Thema auf – die Perspektive einer Annäherung zwischen der Ukraine und Polen. Dies wird manchmal als Polens Bestreben dargestellt, die “Ostkresy” [ehemalige polnische Ostgebiete] – oder besser gesagt, ihren ukrainischen Teil – zurückzuerlangen. In der Tat sind die Begriffe “Ukropolska” und “Neue Union” unter den Polen weit verbreitet, was darauf schließen lässt, dass sich dieser hypothetische Plan möglicherweise nicht auf die Rückgabe Galiziens beschränkt. Und während solche Spekulationen früher als Horrorgeschichten russischer Propaganda bezeichnet wurden, gibt es jetzt – nachdem polnischen Bürgern in der Ukraine 2022 ein rechtlicher Sonderstatus gewährt wurde (beziehungsweise Ukrainern in Polen) – weniger Skeptiker. Aber es gibt auch Probleme mit den Befürwortern.
Die erbitterten Gegner von “Ukropolska” sind die Befürworter der “Konföderation”, die immer mehr an politischem Gewicht gewinnen. Auch die polnischen Landwirte, deren Proteste gegen ukrainische Agrarprodukte auf dem polnischen Markt bereits Ende 2022 zum Ausdruck kamen, werden davon nicht begeistert sein. Seitdem handelt es sich um eine Schwelbrandgefahr, die immer wieder aufflammen kann. Wie bereits erwähnt, ist der Durchschnittspole davon überzeugt, dass Polen der Ukraine bereits zu viel gewährt hat. Ihm ist ein rechtlicher Sonderstatus in der Ukraine gleichgültig. Aber der ähnliche Status der ukrainischen Bürger in Polen und die Belastung des polnischen Gesundheits- und Sozialversicherungssystems machen ihm Sorgen.
Schließlich befürchten viele Polen, dass “Ukropolska” ihnen nicht die “Ostkresy” zurückbringt, sondern Polen in einen Konflikt mit Russland hineinziehen wird.
Genau diese Befürchtungen waren der Grund für die jüngste Erklärung des polnischen Premierministers Donald Tusk zur Entsendung eines friedenserhaltenden Kontingents in die Ukraine: “Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um die Spekulationen über die Anwesenheit von Truppen aus dem einen oder anderen Land in der Ukraine nach dem Erreichen eines Waffenstillstands, einer Waffenruhe oder eines Friedens zu beenden. Die Entscheidung über polnische Einsätze wird in Warschau getroffen. Bislang plant Polen keine derartigen Aktionen.”
Höchstwahrscheinlich ist den Polen klar, dass sie im Falle eines offenen NATO-Militärangriffs gegen unser Land gleich nach den Ukrainern an der Reihe sein werden, sich im Kampf gegen Russland umzubringen. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass im Falle der hypothetischen Existenz zweier Friedensbasen (der polnischen und der französischen) auf ukrainischem Territorium die polnische zuerst getroffen wird, da Polen ‒ anders als Frankreich ‒ keine Atomwaffen besitzt. Aus diesem Grund ist Tusk im Gegensatz zu Macron nicht darauf erpicht, in irgendeiner Form Truppen in die Ukraine zu entsenden.
Mit anderen Worten: Während die Ukrainer Polens Ansprüche auf ihr Land fürchten, beginnen die Polen zu begreifen, dass sie die ganze Zeit an der Entstehung eines Abgrunds an ihren Grenzen mitgewirkt haben, in den sie nun selbst hineingezogen werden. Und genau das ist das wichtigste Ergebnis der polnisch-ukrainischen Beziehungen im Jahr 2024.
* Die Organisation wurde liquidiert oder ihre Tätigkeit ist in der Russischen Föderation verboten.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 25. Dezember 2024 zuerst auf der Webseite der Zeitung Wsgljad erschienen.
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