Von Dagmar Henn
Langsam ziehen sich um die chemische Industrie die Schlingen enger, und die Folgen dürften viele Bereiche des Alltags betreffen.
Der mittlerweile bekannteste Sektor ist die Ammoniakproduktion. Diese ist sehr energieintensiv und braucht zusätzlich Erdgas als Rohstoff. An der Ammoniakproduktion hängen aber unzählige weitere Bereiche.
Zuallererst die Produktion von Stickstoffdüngern. Hier waren die Preise bereits 2021 infolge steigender Erdgaspreise gestiegen, und schon damals hatte der europaweit größte Hersteller Yara mit einer Drosselung der Produktion um 40 Prozent reagiert. Im Frühjahr hatten die Düngemittelpreise auf Rekordhöhe gelegen, danach gingen sie etwas zurück, aber wichtig ist der Grund, den die Fachzeitschrift Agrar Heute nennt: Sowohl in den USA als auch in Europa haben die Landwirte schlicht extrem wenig Dünger gekauft.
Das dürfte daran liegen, dass sie die Preissteigerungen nur schwer weitergeben können (ihr Gegenüber sind die großen Handelsketten) und sich dann der Anbau nicht mehr lohnt. Inzwischen sind die Gaspreise und damit die Ammoniakpreise erneut gestiegen, und die Hersteller von Stickstoffdünger haben in ganz Europa ihre Konsequenzen gezogen. Yara produziert nur noch 35 Prozent der technisch möglichen Menge; die Firma ist aber außerdem auch der zweitgrößte Ammoniakproduzent weltweit, und auch die Ammoniakproduktion ist zurückgefahren.
Größter deutscher Ammoniakhersteller ist SKW Priesteritz in Sachsen-Anhalt. Deren Produktion steht augenblicklich wegen Wartung; aber da ein Sprecher der Firma bereits erklärt hatte, die Gasumlage werde das Unternehmen 30 Millionen Euro monatlich kosten, und damit sei die Produktion nicht mehr rentabel, ist fraglich, ob das Werk überhaupt wieder hochgefahren wird. Eine der beiden Produktionsanlagen war bereits im Juli geschlossen worden. Heute wurde das Unternehmen deswegen im Kanzleramt vorstellig.
BASF in Ludwigshafen hat die Ammoniakherstellung gedrosselt, macht aber keine genaueren Angaben. Die gleiche Lage findet sich bei der Ammoniak- und Düngerherstellung in ganz Europa. Die Produktion wurde entweder eingeschränkt oder ganz stillgelegt.
An der Ammoniakherstellung hängt aber auch die Herstellung von Ad Blue für Dieselfahrzeuge. Dessen Preis lag Ende Juli bereits wieder bei 62 Euro auf 100 Liter für Lkw, was natürlich die Kosten für Transporte weiter in die Höhe treibt, aber schlimmer ist noch, dass das Angebot wegen der fehlenden Ammoniakproduktion endlich ist. Ohne Ad Blue fahren aber die Lkw nicht mehr.
Darüber, dass bei der Ammoniakproduktion auch reines CO₂ anfällt, das unter anderem in der Lagerhaltung benötigt wird, hatten wir bereits berichtet.
Außerdem ist Ammoniak Vorprodukt für eine ganze Reihe von Kunststoffen. Polyurethan (DIN-Kurzzeichen: PUR) beispielsweise. Covestro in Dormagen und BASF in Ludwigshafen haben bereits die Produktion von anderen Vorprodukten für Polyurethan heruntergefahren, weil die Nachfrage niedrig ist. Sie muss niedrig sein, weil ohne Stickstoff nicht produziert werden kann. Wozu Polyurethan verwendet wird? “Aus PUR werden Matratzen, Schuhsohlen, Dichtungen, Schläuche, Fußböden, Lacke, Klebstoffe, Dichtstoffe, Skier, Autositze, Laufbahnen in Stadien, Armaturenbretter, Vergussmassen, Kondome (Präservative) und vieles mehr hergestellt.” So weit die kurze Zusammenfassung von Chemie.de.
Ein weiterer betroffener Kunststoff ist Polyamid. Die Bezeichnung lässt bereits erkennen, dass auch in diesem Polymer Stickstoff enthalten ist. Diesmal aus einer anderen Quelle die Verwendungszwecke von Polyamid 6 (das im Alltag am ehesten unter seinem alten Markennamen Nylon bekannt ist): “Die breiteste Anwendung erfolgt im Automobilbau, in der Elektrotechnik, im Maschinen- und Gerätebau und im geringeren Umfang auch im Verpackungssektor sowie auf dem Sport- und Freizeitgebiet.” Polyamid 6 wird in Deutschland unter anderem bei Domo Chemicals in Leuna hergestellt. Dort steht die Produktion; die Firma hat Force Majeure erklärt. Auch hier gilt: In ganz Europa ist die Entwicklung ähnlich. In Polen hat die Grupa Azoty die Produktion von Polyamid 6 eingestellt.
Dow Chemicals hat in allen europäischen Produktionsstätten die Produktion von Polyethylen um 15 Prozent gedrosselt. Aus Polyethylen bestehen unter anderem Folien, Plastikflaschen und Rohre. Die Ethylenproduktion von BASF in Ludwigshafen, die das für das Polymer erforderliche Vorprodukt liefert, dürfte bei einer reduzierten Verfügbarkeit von Erdgas geschlossen werden. Damit müsste, sofern die Produktion des Kunststoffs in Europa noch möglich ist, das Ethylen importiert werden. Das beträfe auch die Herstellung von PET-Flaschen, für die Ehtylen ebenfalls ein notwendiges Vorprodukt ist.
Wenn man nun betrachtet, in welchen Bereichen die Kunststoffe eingesetzt werden, sieht man leicht, dass von dort aus eine ganze Kaskade in weitere Industriebereiche beginnt; Automobil-, aber auch Maschinenbau sind betroffen, ebenfalls die ohnehin schon von vielfach steigenden Preisen gebeutelte Bauwirtschaft.
Das ist ein Teil der Kette, die, mit Ausnahme des Ethylens, an einer einzigen Substanz hängt, deren Produktion mit den jetzigen Erdgaspreisen nicht mehr rentabel ist. Es ist aber nicht die einzige solche Kette, denn ähnlich verhält es sich beispielsweise in der Metallveredelung, in der Papierindustrie, bei der Glasherstellung. Die Konsequenzen können an völlig unerwarteten Stellen auftreten. Auch chirurgischer Faden ist aus Kunststoff. Kunststoffgebisse werden aus Acrylglas gefertigt, dessen Herstellung ebenfalls heruntergefahren wurde. Viele Waren in Supermärkten stecken in Kunststoffverpackungen oder werden in Folie verpackt.
Auch wenn es einige Monate Verzögerung gab, bis die Folgen der Erdgas- und Energiepreise in Gestalt von Produktionseinschränkungen sichtbar werden: Die Chemieindustrie ist erst der Anfang, weil viele ihrer Produkte in andere Produktionen eingehen. Nicht nur fehlende Chips bringen die Automobilproduktion zum Stehen, auch fehlende Sitze.
Was aber die Möglichkeit betrifft, solche Konsequenzen vorherzusehen – es hatte, wie oben erwähnt, bereits im Jahr 2021 aufgrund steigender Erdgaspreise Probleme mit der Ammoniakproduktion gegeben, die dann in der Folge unter anderem zu höheren Düngerpreisen geführt hatten. Zumindest ein Teil der Kaskade war also bereits sichtbar geworden. Diese Informationen hätten bei der Entscheidung, den Sanktionen zuzustimmen, berücksichtigt werden können und müssen.
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