Von Pierre Lévy
Warschau, Hauptstadt der “freien Welt”? Das war offensichtlich die Botschaft, die der polnische Präsident Andrzej Duda verkünden wollte, als er am 21. Februar seinen amerikanischen Amtskollegen begrüßte. Dieser hielt in der polnischen Hauptstadt eine Rede, die auch 60 Jahre früher hätte gehalten werden können: Der manichäische Ton erinnerte bis zur Karikatur an den Kalten Krieg.
Joseph Biden versprach der Ukraine eine kontinuierliche und unerschütterliche Unterstützung und erklärte: “Brutalität wird niemals den Willen eines Volkes, frei zu sein, unterdrücken”. Gemäß dem westlichen “Narrativ” zielte der Meister des Weißen Hauses natürlich auf Russland ab, ohne sich wahrscheinlich dessen bewusst zu sein, dass eine solche Aussage vor allem auf die 250-jährige Geschichte der USA zutrifft.
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg freute sich darüber, dass “die Alliierten noch nie so vereint waren”. Er betonte, dass das atlantische Bündnis “jeden Quadratzentimeter des Bündnisgebiets schützen und verteidigen” werde.
Die polnischen politischen Führer freuten sich am nächsten Tag noch mehr, als sie die Staats- und Regierungschefs der “B9” begrüßten, einer Gruppe von neun mitteleuropäischen Ländern, die als die treuesten Anhänger eines glühenden Transatlantismus’ gelten – mit der bemerkenswerten Ausnahme des ungarischen Premierministers, der dem Gipfel demonstrativ fernblieb.
Das Treffen, bei dem Präsident Biden die “Ostflanke der NATO” als “Frontlinie unserer kollektiven Verteidigung” würdigte, machte Polen auf diese Weise zum führenden Land des “neuen Europa” (ein Konzept, das der Amerikaner Donald Rumsfeld einst als Gegensatz zum “alten Europa” propagierte, das die Invasion im Irak zu wenig oder gar nicht unterstützt hatte).
Die Krönung Polens ist nicht überraschend: Dieses Land und seine baltischen Nachbarn waren schon immer Vorreiter in Sachen Aggressivität gegenüber Moskau und werden nun in Brüssel dafür gefeiert, dass sie lange vor Westeuropa, das heute seine “Naivität” bereut, Recht gehabt hatten. Nebenbei bemerkt sind die ewigen Vorhaltungen und Drohungen der EU wegen der “Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit”, derer sich die polnische Regierung schuldig gemacht habe, vorerst fast vergessen. Zumal Polen beschlossen hat, riesige Summen zu investieren, um seine Armee zur größten des Kontinents zu machen. Wenngleich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ein wenig gereizt reagieren angesichts dessen, dass Warschau sich hauptsächlich mit amerikanischem oder sogar südkoreanischem Material ausstattet.
Dieses Engagement der Regierung trifft zwar auf eine transatlantische Stimmung in der Bevölkerung. Im Gegensatz aber zu dem karikaturistischen Bild, das die großen westlichen Medien zeichnen, ist diese Unterstützung keineswegs einhellig: Schätzungen zufolge ist mindestens einer von fünf Polen gegen die kriegerische Haltung seiner Führung.
In der Tschechischen Republik sind die Vorbehalte gegen den Krieg in der Bevölkerung noch deutlicher. Bei den Präsidentschaftswahlen Mitte Januar gewann zwar schließlich Petr Pavel, ein ehemaliger General und Vorsitzender des NATO-Militärausschusses; er versprach eine Ausrichtung auf die orthodoxeste westliche Linie. Gegen Pavel angetreten war der ehemalige Premierminister Andrej Babiš, der sich als Friedenskandidat präsentiert hatte und damit immerhin 41,7 Prozent der Stimmen gewann. Und das trotz der anhaltenden Vorwürfe, das Amt zur Geschäftemacherei zu nutzen.
In Prag hatten im Herbst letzten Jahres massive Demonstrationen stattgefunden. Zehntausende Bürger waren auf die Straße gegangen, um gegen die Energiepolitik der Regierung zu protestieren und ein Ende der antirussischen Sanktionen zu fordern. Ein Zeichen, das die europäischen Führer alarmiert hatte, da sie sich über eine mögliche “Ermüdung” der Völker angesichts der Unterstützung der Ukraine, die auf Kosten ihres Lebensstandards finanziert wird, Sorgen machten.
Aus Brüsseler Sicht ist der Fall Ungarns noch problematischer. Dem Regierungschef Viktor Orbán wird vorgeworfen, Moskau nahezustehen, da dieser sich gegen eine militärische Eskalation ausspricht und jegliche Waffenlieferungen an Kiew ablehnt. Ende 2022 hielt er sogar ein Referendum ab, bei dem sich, wie von der Regierung vorgeschlagen, mehr als 97 Prozent der Wähler gegen die EU-Sanktionen aussprachen (1,4 Millionen von acht Millionen Wahlberechtigten nahmen an dieser konsultativen Abstimmung teil). Budapest forderte daraufhin die anderen EU-Mitgliedstaaten auf, den Schaden der Sanktionen in Europa, insbesondere in Bezug auf die Energiekosten, zu berechnen.
Paradoxerweise hat Orbán aber dennoch für alle bisherigen EU-Sanktionspakete, die nur einstimmig beschlossen werden können, gegen Moskau gestimmt. Wie dem auch sei, er kann sich mit seiner Ablehnung einer militärischen Eskalation auf eine massive Unterstützung der Bevölkerung stützen.
Polen, Tschechien, Ungarn … – Was ist mit dem vierten Mitglied der “Visegrád-Gruppe”, der Slowakei? In diesem Land werden am 30. September Wahlen stattfinden; diese beunruhigen die derzeitige, den Vorgaben aus Brüssel treu bleibende slowakische Führung. Denn zwei Parteien, die aus der sozialdemokratischen Bewegung hervorgegangen sind, die das Land unter anderem von 2012 bis 2020 regierte, stellen die Sanktionen ebenfalls in Frage und plädieren für bessere Beziehungen zu Moskau.
Umfragen zufolge könnten sie gegen die amtierende Koalition gewinnen, die nach einer Reihe von Regierungskrisen weitgehend in Verruf geraten ist. Dies gilt umso mehr, als mit einer niedrigen Wahlbeteiligung gerechnet wird.
Um diesem Trend entgegenzuwirken, hat der Vorsitzende der größten Regierungspartei, der rechtsgerichteten OĽaNO, einen originellen Vorschlag gemacht: Er will jedem Wähler, der zur Wahl geht, 500 Euro zahlen.
Natürlich hat sich die Europäische Kommission nicht dazu geäußert. Aber wenn das der Preis dafür ist, einen “zweiten Orbán” in der EU zu verhindern …
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