Von Astrid Sigena
Der Focus sah sich angesichts der sich für das Selenskij-Regime und den Westen verschlechternden Lage im Ukrainekrieg veranlasst, die Expertise verschiedener Militärexperten heranzuziehen, darunter auch die des Schweizers Albert Stahel. Es mag an seiner schweizerischen Herkunft liegen, dass er nicht den Zweiten Weltkrieg, sondern den lange zurückliegenden Siebenjährigen Krieg heranzog, um den Lesern des Focus auch die richtige Russenfurcht einzujagen. Oder hat ihn der Jahrestag der Schlacht von Kunersdorf zu dieser Reminiszenz animiert? Es muss Stahels Geheimnis bleiben.
Stahel steht im Ukrainekonflikt ganz eindeutig aufseiten Selenskijs und seiner westlichen Verbündeten. Dementsprechend betrachtet er ein Nachgeben der ukrainischen Seite, also Zugeständnisse gegenüber den russischen Forderungen, als “Kapitulation”. Das wäre das “Worst-Case- Szenario”. Am besten wäre es – Stahel zufolge – vielmehr, wenn Selenskij mittels europäischer Unterstützung in die Lage versetzt werde, den Russen weiterhin Widerstand zu leisten.
Um die Brisanz der Lage zu verdeutlichen, greift Stahel auf eine weit zurückliegende Episode der deutsch-russischen Geschichte zurück: die Besetzung Berlins im Siebenjährigen Krieg durch russische, sächsische und österreichische Truppen. Stahel drohend: “Steht Europa weiterhin hinter der Ukraine, dann rettet es die eigene Zukunft, wenn nicht, dann könnten eines Tages die Stiefel der Kosaken wieder in Berlin sein.”
Nun sind die Überlieferungen zur russischen Besetzung Berlins im Oktober 1760 widersprüchlich. Es gibt Chodowieckis berühmten Kupferstich von den brandschatzenden Russen in Berlin. Andererseits sollen sich die Russen, während Frankfurt/Oder – Archenholzens Schilderungen zufolge – schwer unter ihnen zu leiden hatte, gerade in Berlin deutlich mit Plünderungen und Übergriffen auf die Zivilbevölkerung zurückgehalten haben: “Nach vielen Streitigkeiten wurden den Oestreichern 50000 Thlr. von den Douceurgeldern zugesichert und ihnen 3 Thore zu besetzen nachgegeben. Sie drangen aber bald mit einigen Tausend Mann in die Stadt ein und nahmen die ganze Friedrichstadt zu ihren Quartieren, wo sie große Exesse verübten, wogegen die Russen die strengste und rühmlichste Mannszucht hielten.” (K.H.S. Rötenbeck)
Und auch ein Aufsatz des österreichischen Verteidigungsministeriums kommt zu dem Schluss: “Interessanterweise verhielten sich preußischen Berichten zufolge die russischen Mannschaften bei der Besetzung Berlins weitaus gesitteter als ihre österreichischen Kameraden.”
Man kann nur spekulieren, warum das Brandschatzen preußischer Städte durch die verwandten deutschen Stämme der Österreicher und der Sachsen im deutschen Kollektivgedächtnis in den Hintergrund gedrängt wurde, während russische Übergriffe leicht ins Gedächtnis der Masse zurückgerufen werden konnten. Womöglich spielen die Bemühungen um die Reichseinigung eine Rolle, dass man sich ungern daran erinnern wollte, wie auch Deutschsprachige untereinander wüten konnten.
Es mag Stahel nicht bewusst sein, aber mit diesem Bild von den Stiefeln der Berlin bedrohenden Kosaken stellt er sich in die Tradition einer Propaganda, die Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Überfall auf den (so die Ideologie) barbarischen, damals bolschewistischen Russen rüstete: Gemeint sind das Buch “Kadetten des Großen Königs” von Felix Lützendorf (erschienen in einer von Reichsjugendführer Baldur von Schirach herausgegebenen Buchreihe) und der Film “Kadetten”, bereits 1939 gedreht und im Dezember 1941 nach dem Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges in Danzig uraufgeführt.
Der Film beruht auf einer überaus tragischen Episode aus dem Siebenjährigen Krieg: dem Schicksal der jüngsten Jahrgangsstufe der Berliner Kadetten (10 bis 12 Jahre), die als kindliche “Kriegsgefangene” der Russen aufgrund mangelnder Versorgung fast alle elend zugrunde gegangen sein sollen. Lassen wir Archenholz zu Wort kommen: “Ihre Jugend, noch der Wartung und Erziehung bedürfend, sollte ihr Schutz sein (…), dessen ungeachtet wurden diese Kinder von den Russen mit fortgeschleppt (…); sie mussten marschiren, unter freiem Himmel liegen, und bekamen nicht einmal Brod. Sie weinten und flehten, dass man sie nicht Hungers sterben lassen möchte, ja einige der größern und mehr ausgebildeten machten ihren Siegern bittere Vorwürfe und verlangten mit edlem Trotz Unterhalt. (…) Man sorgte durchaus nicht für sie und das Brod wurde ihnen wie ein Almosen zugetheilt. Die Mühseligkeiten überstiegen bei weitem ihre Kräfte und Viele büßten darüber ihre Leben ein.”
Aus dieser unbarmherzigen Behandlung der kindlichen Kadetten, die man durchaus ein Kriegsverbrechen nennen kann, machte Regisseur Karl Ritter ein Meisterstück nationalsozialistischer Propaganda. Bei ihm überleben die Kadetten, indem sie mithilfe des preußischen Rittmeisters von Tzülow die grausamen, aber überaus dümmlichen russischen Kosaken übertölpeln. Die Kadetten wurden von Schülern der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (Napola) aus Potsdam gespielt, und man fragt sich unwillkürlich, was wohl das Schicksal dieser verhetzten Kinder gewesen sein mag, wie viele von ihnen den von den Nationalsozialisten angezettelten Krieg nicht überlebt haben.
Eindeutig ist der (handwerklich allerdings sehr gelungene) Film in die nationalsozialistische Rassenideologie einzuordnen, die insbesondere die Russen nur als slawische Untermenschen sehen kann. Der Anführer der Kosaken, so die Ufa in ihrem Pressematerial, verkörpere “asiatische Grausamkeit und satanische Verschlagenheit”.
Das Perfide an diesem Film: Er wandte sich nicht an Erwachsene, sondern an Kinder und Jugendliche, eben die Altersgenossen der auf der Leinwand so tapfer gegen die Russen kämpfenden Kadetten. Eine filmische Erziehung der Jugend für den Weltanschauungskrieg an der Ostfront. Der Autor Kurt Abels beschreibt in seinen Erinnerungen an seine Hitlerjugendzeit, dass Buch und Film ihre Wirkung auf die deutsche Jugend nicht verfehlten.
Wenn man aus den Ereignissen des Siebenjährigen Krieges etwas lernen kann, dann das, dass es schon damals so etwas wie “zivilisierte Kriege” nicht gegeben hat. Womöglich halten wir, geprägt von den Erzählungen der Schrecken des Zweiten Weltkriegs, Kriege aus früheren Jahrhunderten für zu harmlos. Ein grober Fehler. Krieg bedeutet stets Entzivilisierung. Edle Gestalten wie Marwitz, der einen Plünderungsbefehl des Alten Fritz verweigerte und auf dessen Grabstein deshalb “wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte” geschrieben wurde, gibt es in der Geschichte allzu selten.
Genau deshalb sollte man sich die Erinnerung an die Kriege, auch an weit zurückliegende, zur Mahnung nehmen, kommende (und ganz offen schon vorbereitete) Kriege zu verhindern. Man missbraucht die (tatsächlichen oder auch nur unterstellten) Gräuel der alten Zeit, wenn man sie zum Aufbau eines altneuen Feindbildes benutzt.
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