Von Joe Bessemer
Russlands Militär soll am 7. Februar 2024 erstmals den Seeziel-Hyperschall-Marschflugkörper 3M22 Zirkon gegen Landziele (das ist mit den Zirkon-Raketen möglich) in der Ukraine eingesetzt haben. Dies meldete die ukrainische Online-Fachzeitschrift Defense Express mit dem Schwerpunkt Konflikte und Militärtechnik. Dazu wurden Bilder von angeblichen Trümmern dieser Waffe mit der von Hand angebrachten Markierung “3M22” veröffentlicht. Hinzu kamen Bilder von einem, wie es heißt, Krater infolge des angeblichen Einschlags der Waffe an einem Hochspannungsstrommast im Kiewer Stadtbezirk Dnjeprowski.
Mit ähnlichen Behauptungen wartete das ukrainische Online-Informations- und Nachrichtenportal Obschtschestwennoje auf und verwies auf Quellen bei den ukrainischen Sicherheitsorganen.
Eine Detonation von 300 bis 400 Kilogramm Sprengstoff, wie die Zirkon sie trägt, hätte indes einen weitaus größeren Krater ausgehoben, als das Bild zeigt. Erst recht ist ein Abfangen eines ständig Ausweichmanöver fliegenden Hyperschall-Marschflugkörpers durch die ukrainische Luftabwehr mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, wie sie das Blatt unterstellt, so gut wie ausgeschlossen.
Selbst das zu maßlosen Übertreibungen neigende ukrainische Verteidigungsministerium meldete an diesem Tag “lediglich” das Abfangen von Marschflugkörpern vom Typ Kalibr und Ch-555/101 – nicht aber einer Zirkon.
Falls also überhaupt derartige Marschflugkörper gegen Ziele im ukrainischen Hinterland verwendet wurden und die Nachricht nicht komplett erlogen war, drängt sich der Verdacht auf, dass zumindest der Einschlagsort ein ganz anderer war, als nahegelegt wurde.
Doch wirklich interessant – falls die ganze Nachricht nicht mit heißer Feder geschrieben wurde – sind folgende Aspekte:
Als verfügbare Träger- und Abschussplattformen der Zirkon kommen für Russland aktuell nur eine Fregatte und mehrere Atom-U-Boote infrage, die allesamt der Nordflotte angehören. Mit der angegebenen Reichweite von 400 bis 1.000 Kilometern hätten diese Schiffe an Russlands Lenkflugkörper-Massenangriff an diesem Tag nicht teilnehmen können, macht das russische Militäranalysebüro Rybar aufmerksam. Man könne daher annehmen, so die Experten, mit aller nötigen Vorsicht, dass eine Landplattform für den Start dieser Marschflugkörper angepasst wurde – sie gingen für dieses Szenario von radmobilen Schiffsabwehr-Raketensystemen der russischen Küstenwache aus. Das System Bastion fällt hier als ein Beispiel einer Grundlage für eine solche Anpassung ein.
Auch bei der US-Denkfabrik Institute for the Study of War hielt man dies für wahrscheinlich – wobei man dort auf die oben angeführten Auslegungen von Rybar verwies.
Eine derartige Anpassung bietet theoretisch einen Vorteil gegenüber dem Einsatz der Hyperschall-Marschflugkörper Kinschal von Flugzeugen des Typs MiG-31, deren Starts ab den russischen Militärflugplätzen die ukrainische Seite penibel überwacht: Starts der Zirkon von Landplattformen aus wären für Kiews Militär viel schlechter vorhersagbar und deshalb gefährlicher.
Etwas Anderes wäre indes vielleicht noch wichtiger: Eine derartige Anpassung würde die (zunächst) stillschweigende Aufkündigung des Moratoriums gegen bodengestützte Raketensysteme mittlerer und kleinerer Reichweite bedeuten, die Russland nach dem Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag für sich selbst einseitig verhängte.
Nichts Anderes war es im Prinzip, was Moskau am gleichen Tag androhte – für den Fall, dass der kollektive Westen seine Eskalationspolitik der Lieferungen von Waffensystemen immer größerer Reichweite an das ukrainische Militär beibehalte. Diese Warnung, dass diese Eskalationsspirale unkontrollierbar werden könne, sprach Wladimir Jermakow aus, der Leiter des Departements für Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung im russischen Außenministerium. So zitierte ihn die russische Nachrichtenagentur TASS:
“An Kiew werden Lenkflugkörper immer größerer Reichweite geliefert. Länder, die solche Lieferungen vornehmen, müssen sich über die unumgänglichen Konsequenzen derartiger Schritte im Klaren sein – Konsequenzen letztendlich auch für ihre eigene Sicherheit.
Wir betonten es oft genug:
Das Gleiten in der vom Westen angeheizten Eskalationsspirale kann in einem bestimmten Moment außer Kontrolle geraten.”
Besondere Gefahr in dieser Hinsicht gehe momentan von dem in den USA entwickelten ballistischen Gefechtsfeld-Raketensystem Precision Strike Missile aus. Dieses soll als erstes bodenbasiertes System im Reichweitenbereich zwischen 500 und 5.500 Kilometern angesiedelt sein, das zuvor durch den durch die USA aufgelösten INF-Vertrag für bodenbasierte Systeme verboten war. In der Tat wurden diese Raketen bereits auf eine Distanz in diesem Reichweitenbereich getestet, erinnerte Jermakow.
Nicht zuletzt stützt sich diese Rakete in hohem Maße auf vorhandene Infrastruktur: Sie kann von den Mehrfachraketenwerfern HIMARS und MLRS/MARS abgefeuert werden. Jeweils zwei dieser Raketen ersetzen dabei ein Werferpaket mit sechs “normalen” Geschossen des MFOM-Standards – ähnlich, wie die bereits im Arsenal der USA und anderer westlicher Staaten befindliche ATACMS (hierbei wird ein Werferpaket von nur einer ATACMS ersetzt).
Bei Gefahr, dass derartige Raketensysteme in Kiews Hand landen, könnte Russland sein einseitig selbst verhängtes Moratorium für Waffensysteme dieser Klasse aufheben, so der Diplomat sinngemäß:
“Wir führen eine ständige Analyse des durch Russland einseitig verhängten Moratoriums gegen die Dislozierung von bodengestützten Raketen mittlerer und kleinerer Reichweite auf dessen Überlebensfähigkeit hin.”
Falls die eingangs zitierten Meldungen sich als wahr herausstellen sollten, mag es also angehen, dass Moskau dieses Moratorium mittlerweile für kaum überlebensfähig hält. Selbst ein einzelner Einsatz einer landgestützten Zirkon zum Test unter realen Kampfbedingungen spricht hier eine klare Botschaft in einer deutlichen Sprache aus – wichtig ist dann nur, dass man in den europäischen Staaten, deren Gebiete sich im Einsatzradius dieser Waffen nach deren Stationierung wiederfinden würden, diese Botschaft auch wahrnimmt.
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