Von Marina Achmedowa
Eine Hochzeit mit vielen Gästen hinterlässt fliederfarbene Blütenblätter auf den Stufen des Bürger-Servicezentrums “Meine Dokumente”. Dessen Büro befindet sich im Gebäude des Standesamtes im Stadtbezirk Ordschonikidse in Mariupol. Die Blütenblätter sind künstlich, es ist nicht nicht zu schade, darauf zu treten. Das Standesamt hat viele Besucher: Menschen beantragen die Eintragung ihrer Ehe, obwohl sie jahrelang ohne Stempel im Pass zusammen gelebt haben. Doch nach Entbrennen des Krieges machte es Klick: Es muss sein – und es wird Zeit.
In Mariupol sind die Menschen sogar immer noch dabei, ihre Primärdokumente wiederherzustellen: Pässe – und Urkunden über Geburt, Heirat, Scheidung, also Personenstandsurkunden. Manchmal müssen Tote vom Gericht als verstorben anerkannt werden, weil Menschen in ihren Häusern, in Kellern ums Leben kamen und in den Höfen der Häuser begraben wurden. Die Leute bringen Gerichtsentscheidungen stapelweise zum Standesamt.
Die Menschen kehren nach Mariupol zurück – aus Europa, aus der Ukraine, vor allem aber aus dem “großen Russland”, wie unser gemeinsames Land hier oft genannt wird. Aber um die Wahrheit zu sagen: Es gibt hier in den Warteschlangen Fälle, in denen jemand, der zurückgekehrt ist, anfängt, sich mit antirussischen Reden hervorzutun. Im ersten Jahr nach der Befreiung der Stadt gab es kaum Reaktionen auf solches Gerede – und nun werden sie sofort von den anderen Menschen unterdrückt. Aber es kommt auch vor, dass sie hierfür ihre Fäuste benutzen – und der Provokateur muss dann aus der wütenden Menge gerettet werden.
In Mariupol ist man gelinde gesagt skeptisch gegenüber Rückkehrern aus Europa und der Ukraine. Erstgenannte zeigen oft ein neu formatiertes Bewusstsein und es gibt nichts, worüber man mit ihnen reden könnte. Letztere versuchen derweil, ihren Immobilienbesitz in der Stadt einzutragen, um anschließend abermals zurückzukehren – irgendwohin nach Polen. In offenen Gesprächen erläutern sie auch ihre Motivation: Hier muss man arbeiten, vielleicht für ein kleines Gehalt, aber dort kann man von Sozialleistungen leben. Dabei planen sie ja durchaus, wirklich nach Mariupol zurückkehren – später, wenn das Leben in Polen völlig aus dem Ruder läuft und es hier dagegen endlich besser wird und die Preise für ihre Immobilien durch die Decke gehen. Warum also nicht dann den Rest des Lebens am Asowschen Meer verbringen?
Den Einheimischen zufolge gibt es in der Stadt noch eine weitere Kategorie unzuverlässiger Menschen – Familien ukrainischer Militärangehörigen, der Kämpfer, die nach dem Jahr 2014 in die Stadt kamen, um den prorussischen Eifer der Stadtbewohner niederzuhalten. Von der Vorgängerregierung erhielten sie hier Wohnungen, Grundstücke und andere Vergünstigungen, brachten ihre Familien mit, und als sie 2022 abzogen, ließen sie ihre Familien zurück, die sich ruhig und still um die Immobilien kümmerten. Diese Leute sind pro-ukrainisch eingestellt, geben sich jedoch nur in giftigem Flüstern untereinander so – und glauben aus irgendeinem Grund weiterhin, dass die Ukraine zurückkehren wird. Andere Menschen lachen offen über sie – es ist bereits für alle klar, dass es hier niemals wieder die Ukraine geben wird. Und wie ein Großväterchen in der Schlange für Dokumente sagt:
“Jeder kann sehen, dass Selenskij die Ukraine verkauft hat und die Ukrainer nicht mehr die Herren der Ukraine sind.”
Den Menschen hier wird auch immer klarer: Wenn Russland die Stadt nicht befreit hätte, würden die einheimischen Männer jetzt nicht so frei durch die Straßen laufen – sie würden “bussifiziert“, also von den Mitarbeitern der Zentren für Personalaufstellung zum Kriegsdienst zwangsrekrutiert, mit Gewalt in Kleinbusse gepfercht und weggebracht, wonach sie meist ohne oder mit nur unzureichender militärischer Ausbildung an die Front geschickt würden. Derartige Haussitter, und mit ihnen diejenigen, die aus Europa und der Ukraine nach Mariupol zurückgekehrt sind, gelten bei den Menschen als unzuverlässig – gröber ausgedrückt: als zu erneutem Verrat bereit.
Verrat aber können die Einwohner von Mariupol so gar nicht mehr verdauen. Und mit einer lapidaren Erklärung, dass die Rückkehrer das alles nicht erlebt haben, was die Zurückgebliebenen erleben mussten, wäre fast gar nichts gesagt. Denn es war gerade diese Erfahrung, die die Menschen grundlegend veränderte: Sie können mit düsteren Gesichtern durch die Straßen der Stadt gehen, wo sich neue Gebäude immer noch mit kaputten Häusern abwechseln – doch wenn sie Grund zum Feiern haben haben, dann setzen sie alles daran, daraus auch ein echtes Fest zu machen. Und wenn geheiratet wird, dann eben eine echte Hochzeit. Auch haben die Menschen gelernt, im Hier und Jetzt zu leben – doch nicht allein darum, weil ihnen im Keller des Jahres 2022 klar wurde: Ein “Morgen” kommt vielleicht nicht mehr. Nein, für die Bewohner von Mariupol bedeutet hier und jetzt zu leben, auch richtig zu handeln. Nicht zwischen Handlungsoptionen hin und her zu schaukeln wie ein Pendel, sondern genau das zu tun, was ihnen ihr Gewissen sagt. Denn es ist gerade das Gewissen, das immer sagt, was richtig ist. Viele von ihnen lernten diese Lektion, als sie unter Beschuss zu ihren bettlägerigen Alten gingen, sich gegenseitig halfen – oder am Gegenbeispiel derer, die ihre alten Eltern in den Wohnungen zurückließen, selber aber im Keller vor dem Beschuss Schutz suchten. Gerade damals wurde die Stimme des “Mariupol-Gewissens” immer eindringlicher.
Dieses Standesamt ist so beschaffen, dass man schon beim Betreten des Saals staunt: Skulpturen in Form von zwei Schwänen an den Wänden, Kronleuchter, Marmorböden, brokatbeschlagene Stühle und Sessel, Geräumigkeit – und das 25 kg schwere Wappen Russlands an der Wand. Gepflegte Sofas mit gebogenen Beinen und schöne Leuchten im Zimmer des Brautpaares. So etwas mag in Moskau oder Sankt Petersburg häufig zu sehen sein, aber auch in Mariupol gibt es ein solches Standesamt. Nur wegen dieses Saals kommen Hochzeitsgesellschaften aus der ganzen Volksrepublik Donezk hierher.
Der Hochzeitskorso mag dabei zwei Stunden von Donezk oder Jenakijewo aus anfahren – den Paaren ist das egal, solange sie ihre Hochzeitsfotos in diesem Saal schießen können. Hier heiraten sie alle: Es heiraten Bauarbeiter, die hierhergekommen sind, um die Stadt wiederaufzubauen, und mobilisierte Militärangehörige schließen hier ebenfalls die Ehe. Dabei sind Hochzeiten einheimischer Männer mit Mädchen aus dem “großen Russland” äußerst selten, während zugereiste Männer recht oft einheimische Damen zur Frau nehmen: Solche Ehen machen etwa 30 Prozent aller in diesem Standesamt eingetragenen Ehen aus. Militärangehörige, die aus Wladiwostok, Irkutsk und Moskau stammen, ehelichen ihre Bräute, die aus ihren Heimatstädten zu ihnen kommen. Diese Paare kommen für gewöhnlich in normaler Alltagskleidung, reichen ihren Antrag ein und können ihre Ehe noch am selben Tag eintragen lassen – zwischen solchen Hochzeiten liegt ein Zeitfenster von 15 Minuten. Jeder versteht: Die hier haben nur einen Tag frei, dann geht er zurück an die Front und sie kehrt in ihre Stadt zurück, um auf ihn zu warten.
In demselben Standesamt werden jede Woche sechs bis neun Neugeborene registriert, darunter oftmals das dritte Kind in der Familie. Dafür gibt es eine Erklärung: Erstens heiraten die zugereisten Militärangehörigen häufig Frauen, die bereits zwei Kinder aus ihrer ersten Ehe haben. Das dritte wird dann unter anderem auch dafür geboren, um die neue Ehe mit einem gemeinsamen Kind zu festigen. Zweitens hatten die Einwohner von Mariupol in den vergangenen Jahren, noch in der Ukraine, noch nie solche Sozialleistungen für Kinder gesehen und bezeichnen von all diesen vor allem das Mutterschaftskapital als das Alleinstellungsmerkmal Russlands überhaupt. Deshalb setzen sie mutig Kinder in die Welt.
Eine neue Hochzeitsgesellschaft betritt den Saal: ein großgewachsener Bräutigam mit einem ernsten Gesicht, das seinem Alter nicht entspricht, und eine junge Braut im Hochzeitskleid, ihr schwarzes Haar zu einer hohen Frisur gesteckt. An ihrem Hals ist eine feine Tätowierung zu sehen, wie eine schwarze Ader, wie ein Zeichen des Krieges. Die Gäste sind die ebenfalls großgewachsene, energische Mutter des Bräutigams – und ich, zufällig in den Saal gewandert. Im prächtigen Marmorsaal empfängt sie die Traurednerin mit heller Stimme:
“Ein erhabenes Gefühl – Liebe – hat euch in diese Halle geführt! Was gibt es Schöneres, als zu lieben und geliebt zu werden? Als mit einem Menschen durchs Leben zu gehen, dem man sein Herz und seine innigsten Gedanken anvertrauen kann? Die Liebe hat eure Herzen zu einem Ganzen vereint – zu einer Familie, wo ihr immer geliebt und unterstützt werdet. Gerade eine solche Familie wird zur Grundlage eines starken Staates. Teilt ganz Mariupol mit, dass es jetzt eine glückliche Familie mehr gibt!”
Derweil tanzt das Ehepaar bereits zu einem Lied, das sie auf einem USB-Stick mitgebracht haben. Das wird die Musik ihrer Familie.
“Hallo!
Auf dich wartete ich so sehr, Auch bis der Schlaf die Stadt ereilt, Bis sich der Bahnhof leert – Und bis sie kommt, unsere Zeit.
Hallo!
Auf dich wart’ ich schon lang. Ich hab so viel bei mir: Hier sind der Wein, das Meer und sein Klang, Hier das Ufer und hier der Pier.
Lass mich mich in dich verlieben. Ich sehe dich so gern an. Reißen wir die Straßen aus ihrem Schlaf. Wir zwei – und der Sonnenaufgang.”
Die Braut blickt mit verrückter Liebe in ihren strahlend blauen Augen den verlegenen Bräutigam an, ihr Tattoo ist wie eine pulsierende Ader und in ihren Bewegungen liegt viel unruhige, eigenwillige Energie der Jugend.
“Kennen sie sich schon lange?”, frage ich die Mutter, die neben mir steht. “Die Beiden? Nein, ich weiß es nicht. Wahrscheinlich noch nicht lange. Ich bin froh, dass Russland zu uns gekommen ist, ich schwöre es Ihnen! Bin ja nicht umsonst Russin! Kosakenmädchen! Ich lebte noch in der Sowjetunion, uns hatte man rechtswidrig der Ukraine überlassen.”
Der Bräutigam ist Seemann, er fährt lange Touren. Im Jahr 2022, als der Krieg begann, befand er sich auf See vor der Küste Griechenlands. Und seine Mutter in Mariupol. Er ging sofort an Land und flog nach Moskau.
Sie hielten ihn am Flughafen an, unterhielten sich mehrere Stunden lang mit ihm, erklärten, dass in Mariupol Krieg ist – und er antwortete, seine Mutter sei dort und er ihr einziger Sohn. “Entweder du holst deine Mutter hierher in Sicherheit oder nicht”, sagte er damals. “Ich fahre meine Mutter holen.” Sie ließen ihn durch und halfen ihm, nach Mariupol zu gelangen. Er überlebte die Kämpfe, deren Zeuge er wurde, und fand seine Mutter. Mit ihr ging er erneut durch die umkämpfte Stadt und brachte sie dann nach Orjol in Russland.
Die Braut saß zu dieser Zeit im Keller. Er hätte auch sie mitgenommen, aber sie kannten sich damals noch nicht. Sie lernten sich später kennen, “auf’m Drama” – bei den Ruinen des Schauspielhauses von Mariupol, wo die Stadtbewohner noch immer Verabredungen und Treffen miteinander vereinbaren. “Lass uns einen Kaffee trinken gehen, auf’m Drama, das es nicht gibt”, schrieb ihr Verlobter ihr. Das war ihr erster gemeinsamer Witz – und er dürfte ihr gemeinsames Leben auch weiterhin begleiten: Denn welche Dramen soll es auch geben, wenn man sich liebt?
Marina Achmedowa ist Schriftstellerin, Journalistin, Mitglied des Menschenrechtsrates der Russischen Föderation und seit Kurzem Chefredakteurin des Nachrichtenportals regnum.ru. Ihre Berichte über die Arbeit als Menschenrechtsaktivistin und ihre Reisen durch die Krisenregion kann man auf ihrem Telegram-Kanal nachlesen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel wurde für den TG-Kanal “Exklusiv für RT” verfasst.
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