Von Pierre Lévy
Das zweite Gipfeltreffen der “Europäischen Politischen Gemeinschaft” (EPG) fand am 1. Juni in der Nähe von Chișinău, der Hauptstadt Moldawiens, statt. Sechsundvierzig Staats- und Regierungschefs waren anwesend. Die Chefs der EU-Mitgliedstaaten trafen also auf ihre Amtskollegen von rund 20 anderen Ländern des alten Kontinents. Ein Treffen der “europäischen Familie”, freuten sich die Organisatoren. Wie bei der ersten Veranstaltung waren nur Russland und Weißrussland von vornherein ausgeschlossen worden.
Ein Ausschluss, der nicht überrascht, wenn man sich an die Entstehungsgeschichte der EPG erinnert. Es war der französische Präsident Emmanuel Macron, der in einer Rede vom Mai 2022 als Erster die Einführung dieses “unbekannten politischen Objekts” gewünscht hatte. Der Krieg in der Ukraine – in seiner aktuellen Phase – hatte drei Monate zuvor begonnen. Macron hatte, wie seine westlichen Kollegen, einen Rahmen finden wollen, der die Ukraine und Moldawien politisch einbindet, da er damals noch Vorbehalte gegen den eigentlichen Beitritt dieser Länder zur Europäischen Union gehabt hatte.
Die Idee missfiel daher zunächst einer Reihe von Hauptstädten, z. B. der mittel- und osteuropäischen Länder, die im Namen der atlantischen Solidarität, die ihrer Meinung nach untrennbar mit der EU verbunden war, für eine möglichst baldige ordnungsgemäße Integration Kiews und Chișinăus plädierten.
Schließlich setzte sich der Herrscher des Élysée-Palasts durch, indem er in Aussicht stellte, dass ein solches kontinentales Treffen ein ideales Mittel wäre, um die Isolation Moskaus zu signalisieren. Das erste Treffen, das im Oktober 2022 in Prag stattgefunden hatte, war vom tschechischen Premierminister Petr Fiala eröffnet worden, der schon die “Gelegenheit für die europäischen Demokratien [also: einschließlich Aserbaidschans und der Türkei], eine vereinte Front gegen Putins Brutalität zu präsentieren” feierte. Der Chefdiplomat der EU Josep Borrell hatte seinerseits demonstrativ verkündet (obwohl er offiziell keine Rolle gespielt hatte): “Dieses Treffen ist der Weg zu einer neuen Ordnung ohne Russland.”
Es überrascht nicht, dass sich die antirussische Stimmung neun Monate später nicht gemildert hat. Umso weniger, als diesmal auch der ukrainische Präsident anwesend war. Eine “Überraschung”, die niemanden überraschte, da Wladimir Selenskij jetzt kein einziges internationales Treffen mehr verpasst, sobald er dort Panzer, Raketen und Flugzeuge fordern kann.
Die EPG hat keine formelle institutionelle Existenz. Wozu kann sie also gut sein, da es bereits die EU und die NATO gibt, ganz abgesehen vom Europarat?
Für einige Politiker, insbesondere Macron, ermöglichen diese Konferenzen eine “strategische Intimität” mit dem Vereinigten Königreich, das die EU verlassen hat, sowie mit Ländern, die sich weigern, dem Klub beizutreten, wie Island, Norwegen oder die Schweiz. Offiziell könne dort auch an einer Zusammenarbeit in Bereichen wie Energie, Schutz der Infrastruktur, Jugend, Konnektivität und Mobilität gearbeitet werden. Der französische Präsident hat in diesem Rahmen auch die Einrichtung einer Reservetruppe für Cyberkriegsführung vorgeschlagen …
Die Organisatoren begrüßten im Übrigen, dass ein solches Forum informelle bi- oder multilaterale Austausche erlauben kann. Macron und Olaf Scholz nahmen beispielsweise an Kontakten zwischen den Präsidenten Armeniens und Aserbaidschans teil, deren Länder sich nach wie vor in einem Zustand des verdeckten Krieges befinden; oder zwischen dem serbischen Präsidenten und seiner Amtskollegin aus dem Kosovo, einer ehemaligen serbischen Provinz, die sich 2008 selbst für unabhängig erklärt hatte, aber von Belgrad nicht anerkannt wird und mit dem sich der Konflikt in letzter Zeit wieder aufgeheizt hat. Keines dieser Konziliare führte jedoch zu nennenswerten Fortschritten.
In Wirklichkeit ist die “Erweiterung” der EU die wichtigste Frage, die in den Köpfen der Prominenten herumspukt. Das betrifft einerseits die Ukraine und Moldawien (zwei ehemalige Sowjetrepubliken), deren Behörden mit Nachdruck an die Brüsseler Tür klopfen. Ihnen wurde vor einem Jahr der Kandidatenstatus zuerkannt. Der nächste Schritt ist die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen, für die die 27 bis Ende des Jahres grünes Licht geben müssen.
Mit “Verhandlungen” ist die einseitige Anpassung der Rechtsvorschriften der Kandidatenländer an das EU-Recht gemeint. Der Prozess kann sich über Jahre hinziehen, ohne dass ein Erfolg garantiert ist – die “Verhandlungen” mit der Türkei waren 2005 aufgenommen worden und sind nun eingefroren.
Die Gespräche werden grundsätzlich mit jedem einzelnen Kandidatenstaat geführt, aber viele führende EU-Politiker plädieren für eine Beschleunigung der Verfahren und bestehen darauf, dass einige Balkanländer – Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegowina, Nordmazedonien, Kosovo, … –, die seit Jahren in mehr oder weniger fortgeschrittenen Vorzimmern warten, nicht vergessen werden. Andernfalls, so betonen vor allem Warschau, Prag, aber auch Berlin, würde Russland in Südosteuropa seine Züge vorantreiben, um den alten Kontinent zu destabilisieren.
Paris bestreitet das Argument nicht, ist aber besorgt über eine EU, die mit zunehmender Größe immer impotenter wird. So wäre die Einstimmigkeit, die – zum Leidwesen Deutschlands – in der Außenpolitik immer noch die Regel ist, bei dreißig oder fünfunddreißig Mitgliedern immer schwieriger zu verhandeln.
Macron ist daher – nicht ganz zu Unrecht – davon überzeugt, dass jeder weitere Beitritt die Wahrscheinlichkeit eines Zerfalls der EU erhöhen würde, wenn nicht die Architektur und die Regeln der EU geändert werden. Für diejenigen, die die Geschichte der EU verfolgen, taucht damit die Debatte wieder auf, die Paris und Berlin seit den 2000er-Jahren führten: Frankreich plädierte für mehr Integration vor der “Erweiterung”, Deutschland für Erweiterung vor “Vertiefung” – diese zweite Sichtweise hatte sich 2004 durchgesetzt und machte Mitteleuropa zum wirtschaftlichen Hinterhof Berlins.
In den letzten Wochen schien der französische Präsident jedoch seine Tonart zu ändern. Am 31. Mai forderte er in Bratislava eine Beschleunigung des Beitritts von Kiew und Chișinău: “Wir treten in eine sehr politische Phase ein, die EU muss den westlichen Balkan, die Ukraine und Moldawien einbinden”. Doch um gleich darauf zu präzisieren: “Wir müssen akzeptieren, dass wir eine erweiterte, geopolitische Union haben. Gleichzeitig könnten einige ihrer Mitglieder beschließen, eine viel stärker gemeinschaftsintegrierte Politik zu betreiben.”
Damit taucht die alte Seeschlange des “Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten” wieder auf, ein Streit, der lange Zeit Paris und Berlin entzweite. Der Streit könnte innerhalb der 27 EU-Staaten wieder aufflammen, ohne dass die Einrichtung der EPG den Konflikt in irgendeiner Weise lösen könnte. Der nächste Gipfel wird im Oktober in Spanien stattfinden.
Wie dem auch sei, der Vollzug der Erweiterung ist, auch langfristig, unwahrscheinlich.
Da auf dem Gipfeltreffen am 1. Juni keine nennenswerten Fortschritte erzielt wurden, wird vor allem eine wichtige Abwesenheit in Erinnerung bleiben: die des türkischen Präsidenten, der wenige Tage zuvor wiedergewählt wurde. Während die meisten westlichen Politiker diskret hofften, dass dieses NATO-Schlüsselland einen Nachfolger wählen würde, der der atlantischen Allianz gefügiger sein würde, scheint nun die neue Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan mit großen Unsicherheiten verbunden, so sehr hat er in den letzten Jahren im westlichen Lager die Rolle des bösen Buben gespielt.
Dass er dem Gipfeltreffen in Chișinău fernblieb, ist vielleicht kein gutes Zeichen für die europäischen Staats- und Regierungschefs, die ihre “Einheit gegenüber Putin” demonstrieren wollten …
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