Von Anton Gentzen
Ständige Leser haben es schon bemerkt: Als Russlands Auslandssender versucht RT DE im Rahmen rechtlicher Schranken die Meinungspalette des Landes so lückenlos wie möglich abzubilden. Artikel des Erzkonservativen Alexander Dugin werden für das Publikum in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz ebenso übersetzt wie solche des Lenin-Apologeten Sachar Prilepin. Wie auch Meinungen und Analysen anderer Autoren in hunderten Schattierungen des politischen und philosophischen Denkens dazwischen.
Der deutsche Medienkonsument ist das spätestens seit Merkels zweiter Kanzlerschaft nicht mehr gewohnt: Bei allen kriegsbedingten Einschränkungen ist die Medien- und Meinungsvielfalt in Russland immer noch um ein Vielfaches breiter und bunter als im “besten Deutschland aller Zeiten”, wo in allen großen Medien, dem sogenannten Mainstream, immer nur eine Meinung geduldet wird, und zwar bis in vorgegebene Formulierungen hinein.
Und so haben große Massen deutscher Leser und Zuschauer auch die für den Umgang mit solch einer Meinungsvielfalt erforderlichen Abstraktionsfähigkeiten längst eingebüßt: 70, 75 Prozent der Deutschen und Österreicher gilt das, was in der Zeitung steht und in den “öffentlich-rechtlichen” Abendnachrichten verkündet wird, als absolute Wahrheit und “der Weisheit letzter Schluss”. Ist nicht so, meinen Sie? Woher kamen und kommen sonst die Wellen der Hysterie rund um die “Gefahr von rechts”, “die asozialen Impfverweigerer” und “den Vernichtungskriege führenden Russen”?
Der RT-Leser ist anders, er ist die Ausnahme. Er ist ja hier, weil er bewusst nach Alternativen sucht und selbst vergleichen und denken will. Aber wie steht es um den Nachbarn und die Nachbarin, den Kollegen auf Arbeit, den linken, grünen, christlichen, liberalen “Parteiarbeiter” nebenan?
Da ist es schon ein gewagtes Experiment, kommentarlos einen geschichtsfälschenden Artikel eines marginalen russischen Monarchisten auf das deutsche Publikum loszulassen, wie das am Montag in deutscher Übersetzung veröffentlichte Machwerk mit dem Titel “Banker ergreifen die Macht: So werden Revolutionen vollzogen“. Der Autor, Wladimir Moschegow, er bezeichnet sich als Politologe und Amerikanist, publiziert hauptberuflich beim reaktionär-monarchistischen TV-Sender Zargrad (übersetzt: Zarenstadt) des Oligarchen Konstantin Malofejew.
Letzterer hat es sich zum persönlichen Anliegen gemacht, den sowjetischen Teil der Landesgeschichte mit möglichst viel Dreck zu überschütten und die Zustände im feudal-zaristischen Russland vor 1917 zu glorifizieren.
Da es nun mal eine historische Tatsache ist, dass der russische Zarismus (anders als etwa die Monarchien in England und Preußen) das ihm anvertraute Land im Laufe des 19. Jahrhunderts in einen mit einem “Weiter so” nicht mehr aufholbaren Rückstand zu anderen europäischen Mächten und – wie sich später zeigen sollte – den USA geführt und letztlich vor die Wand gefahren hat und es die Bolschewiki waren, die den Rückstand (wenn auch zu einem hohen Preis) in rekordverdächtig kurzer Zeit aufholten, haben Malofejew und sein bezahltes Personal nur das Mittel plumper Geschichtsfälschung und Geschichtsverdrehung zur Hand.
Wie auch im antisowjetischen Diskurs im Westen, werden die Opferzahlen um ein Vielfaches übertrieben. Wie dort geht es nicht darum zu verstehen, warum es so gelaufen ist, wie es gelaufen ist, sondern die geschichtlichen Ereignisse werden ausschließlich dem bösen Willen einer finsteren Macht zugeordnet. Das allein scheint aber angesichts der Besinnung der Mehrheit der Russen auf einen ganzheitlichen Blick auf ihre Geschichte nicht zu reichen, um dem Volk die ersehnte Rückkehr zu überwundenen Verhältnissen einer reaktionären Standesgesellschaft schmackhaft zu machen. Und so greift man auch zu plumpen Lügen und Fälschungen, wenn etwa nachweislich natürlichen Todes gestorbene Geistliche und sogar ein von Kriminellen im unabhängigen Lettland der Zwischenkriegszeit ermordeter orthodoxer Bischof zu den “Opfern der gottlosen Bolschewiki” gezählt werden.
Und das sind noch die geschickteren Manipulationen der “Zargrader”: Um sie aufzudecken, muss man aktiv werden und die langen Namenslisten, mit denen Zargrad-Propagandisten den Leser und Betrachter emotional zu überwältigen suchen, Name für Name durchgehen und die hinter den Namen stehenden Lebenswege und Schicksale recherchieren und erkunden. Für wen sind aber die abstrusen Behauptungen von Moschegow gedacht, die RT DE ins Deutsche übersetzte und am Montag veröffentlichte? Diese hier:
“Die dritte Revolution dieser Art – und die grausamste von allen – wird später die Revolution in Russland sein. Auch sie wird mit der Hinrichtung der Zarenfamilie enden. Und diese Hinrichtung wird einen noch nie dagewesenen Terror auslösen, in dessen Verlauf zunächst die gesamte russische Aristokratie ausgerottet und anschließend auch die gesamte russische Bauernschaft eliminiert wird. In dieser Situation der Zerstörung jeglicher nationaler Identität befinden wir uns heute.”
Die gesamte russische Bauernschaft haben die Bolschewiki “eliminiert”? Wirklich?
Die Einwohnerzahl Russlands in den Grenzen der Sowjetunion von 1922 bis 1939 wird für das Jahr 1917 auf 135 bis 140 Millionen geschätzt, die erste sowjetische Volkszählung von 1926 ergab einen Bevölkerungsstand von 147 Millionen. Von den 135 bis 140 Millionen des Jahres 1917 waren 83 Prozent, also rund 116 bis 122 Millionen, Bauern. Will Herr Moschegow uns tatsächlich weismachen, die Sowjetmacht habe 83 Prozent der Bevölkerung eliminiert? Zu solchen Phantasien hat sich nicht einmal die Belletristik des längst als Lügner entlarvten Solschenizyn versteigert.
Wer hat dann all die Jahre der Sowjetunion Getreide angebaut und Kühe gemolken? Wer fährt heute Rekordernten ein? Woher kamen die über 30 Millionen gesunden und kräftigen Männer her, die im Laufe des Zweiten Weltkriegs Dienst in der Roten Armee leisteten?
Wer läuft denn heute über die Straßen und Plätze kleiner und großer Städte Russlands? Die Russen wissen es: Es sind 100 Millionen Bauernkinder, Bauernenkel und Bauernurenkel. Sie selbst sind diese angeblich eliminierten Bauern, quicklebendig. Nur dass wie in jedem anderen industrialisierten Land ein großer Teil von ihnen in die Städte zog und sich bilden ließ, während ein kleinerer, so viel wie in der modernen Landwirtschaft nötig, in den Dörfern blieb. Ein normaler Gang des Fortschritts, den jedes europäische Land kennt, und den Malofejew und Moschegow Russland gern verweigert hätten und heute zurückdrehen wollen. Die Möchtegern-Blaublüter Russlands dürstet es nach Adelsprivilegien samt Leibeigener …
Im Jahr 2021 lebten knapp 110 Millionen Russen (ohne den Donbass) in Städten, 37 Millionen – das sind knapp 26 Prozent – auf dem Land. In Deutschland sind es übrigens 23 Prozent, die auf dem Land leben. Beide Zahlen sind nicht Folgen eines Genozids an Bauern.
Nur unwesentlich anders verhält es sich mit der anderen absurden Behauptung Moschegows: Der gesamte russische Adel sei “ausgerottet” worden. Nun, da sich unter den zuletzt 1,9 Millionen formell Adligen Russlands nach 1917 besonders viele fanden, die die neuen Verhältnisse nicht akzeptieren wollten und für ihre Privilegien und Besitztümer zu den Waffen im Bürgerkrieg griffen, sind zweifellos aus diesem Stand anteilig viele darin gefallen. Weitaus mehr sind ausgewandert. Einige wurden unbestreitbar auch Opfer des “Roten Terrors”, der selbst Antwort auf den “Weißen Terror” war. Wissenschaftlich fundierte Schätzungen jenseits weißgardistischer Horrorpropaganda schwanken zwischen 50.000 und 140.000 Erschossenen aus allen Ständen.
Doch es gibt auch die andere Seite: Lenin selbst entstammte dem Adel. Die Gebrüder Bontsch-Brujewitsch. In der Roten Armee dienten im Russischen Bürgerkrieg mit 62.000 mehr Adlige als in allen Formationen der “Weißen” zusammen. Wer die Adelspflicht, dem Volk und dem Land zu dienen, ernst nahm, landete bei den “Roten” und pfiff auf Titel und Privilegien. Der bekannteste Ex-Adlige der UdSSR schaffte es, im Laufe seines Lebens sowohl alle Versionen der Sowjethymne als auch die aktuelle Hymne Russlands zu dichten: Sergei Michalkow. Sein Sohn Nikita wurde von der Sowjetmacht als Schauspieler mit Prämien und Titeln umgarnt und nutzt seit 1992 sein überhyptes Talent als Regisseur zum Drehen lächerlicher antisowjetischer Schnulzen, in denen Hitlerfaschisten sympathischer daherkommen als jene “eliminierten” russischen Bauern in Sowjetuniform.
Tatsache ist: Nicht die Abstammung war der Sowjetmacht wichtig, sondern die individuelle Haltung. Wer die Waffen ergriff, um die Volksmacht zu bekämpfen, wurde bekämpft. Wer dem Volk diente, wurde honoriert. Der russische Adel wurde nicht “ausgerottet”, sondern seiner Privilegien entledigt. Wie es sich gehört, denn anders als Malofejew es wünscht, soll niemand jemals wieder der “Gnade der Geburt” wegen über anderen stehen, niemand infolge des “Pechs der Geburt” der Fußabtreter sein.
Das ist der nationale Konsens in Russland – Malofejews, Moschegows und Konsorten sind dagegen nur Marginale. Und hier ist die nationale Identität der Russen, die ihnen die Zarenanbeter absprechen: Sie sind freie und gleichberechtigte Söhne und Töchter eines großartigen Landes, das erst Russland hieß, dann Sowjetunion und nun wieder Russland heißt.
Was die Revolutionsphobie der “Zargrader” angeht… Der Artikel Moschegows wurde nicht der Kritik an der Englischen Revolution von 1645 wegen geschrieben. Sie wäre auch lächerlich, wenn man bedenkt, in welche Höhen sie Britannien beförderte – zwei Jahrhunderte lang an der Spitze des Fortschritts und der Industrialisierung, des Erdballs größtes Reich. Geschrieben wurde er nur der zitierten Passage mit den drei Lügen wegen, ein weiterer Kübel Dreck auf die eigene Geschichte nach dem Motto “Vielleicht bleibt doch was stecken”.
Und was geht uns Deutsche das an? Nun, Revolutionen verlaufen nicht immer ideal. Aber sie geschehen immer wieder und immer ungefragt, wenn sie unvermeidlich geworden sind. Wenn eine arrogante Herrscherkaste das Land in eine Sackgasse manövriert hat, sind sie der einzige Ausweg. Lasst euch durch die Horrormärchen bloß nicht verunsichern in München, Frankfurt und Berlin!
Mehr zum Thema ‒ Das tragische Schicksal des russischen Volkes. Teil 1 Teil 2