
Von Dagmar Henn
Es wird von Jahr zu Jahr bizarrer. Diese Forderung eines britischen Kunstmuseums, Weihnachten zu “dekolonisieren”, ist Teil eines absurden Spektakels, zu dem auch gesichtslose Krippenfiguren einer deutschen Künstlerin in Brüssel oder deutsche Debatten darüber gehören, ob man nicht neutraler von “frohem Festtagen” reden solle, oder die Empörung, die vor zwei Jahren ein geschenkter Weihnachtsbaum samt Geschenken bei einer Kita-Leitung in Hamburg auslöste. Von Pole Dance im Weihnachtsgottesdienst ganz zu schweigen. Fehlt eigentlich nur noch ein Krippenspiel mit einer Trans-Maria, der dann alle ihre Ehrfurcht bekunden müssen, weil erstens die Darstellung von Maria mit Kind ein sexistisches Klischee ist, und zweitens schließlich eine Transfrau eine Frau und jede andere Aussage strafbar.
Das alles löst ein tiefes Unbehagen aus. Nicht, weil Weihnachten unbedingt auf eine bestimmte Art und Weise gefeiert werden müsse. Und auf der religiösen Bedeutung beharre ich mit Sicherheit auch nicht. Aber das bedeutet noch lange nicht, das Rituelle entkernen, sich seiner Bedeutung entledigen zu müssen. Das ist die Lösung für die ganz Dummen. Denn jede rituelle Tradition, auch die von Weihnachten, ist vielschichtig und erzeugt die mögliche Identifikation gerade dadurch, während das Nichtfeiern, das letztlich das Ergebnis all dieser Schritte ist, an deren Stelle eine Leere hinterlässt.
Wobei die britische Reaktion auf den Weihnachtsmann in sich schon ein Beleg der Unkenntnis ist. Denn die Geschenkebringer gab es in vielen Varianten, und der Weihnachtsmann ist eine relativ neue, die vor allem vermittels der Coca-Cola-Werbung weltweit verbreitet wurde. In Deutschland war “Santa Claus” der Nikolaus und zuständig für den 6. Dezember und Stiefel vor der Tür, nicht für Socken über dem Kamin am 25.12. wie bei den Briten. Dafür gab es am Weihnachtsabend das Christkind, vorgestellt als lockiger Rauschgoldengel im weißen Hemd, und dann noch unzählige lokale Abweichungen. Bis hin zu einem anderen Termin für die Geschenke. In einem Münchner Sagenbuch las ich einmal, dass noch Ende des 19. Jahrhunderts die Geschenke am 6. Januar ausgetauscht wurden (was mit der Geschichte der drei Weisen aus dem Morgenland übereinstimmt), aber von drei Frauen gebracht wurden. Wohinter man dann die weiblichen Zwillinge von Caspar, Melchior und Balthasar vermuten kann, die weiblichen Nothelfer Katharina, Margarethe und Barbara.
Und das ist nur die Oberfläche. In Brasilien gibt es einen Neujahrsbrauch. Man isst drei Granatapfelkerne und wünscht sich dabei etwas für das neue Jahr. Der Ursprung dieses Brauchs könnte im Iran liegen, wo Granatäpfel eine wichtige Rolle bei der Sonnwende spielen … In Oberitalien kamen die Geschenke von der Befana, eine Art alter Weihnachtshexe, die wiederum an die wilde Jagd erinnert, die nach deutschem Aberglauben vom Weihnachtsabend bis zum Dreikönigstag unterwegs ist, weshalb man in diesen Tagen keine Wäsche waschen soll, damit keine bösen Geister darin hängenbleiben …
Es ist vielleicht ein wenig wie ein sehr altes Möbelstück, das immer wieder neu gestrichen wurde – nur, dass die alten Farben immer noch durchscheinen, sodass dieses Möbelstück auf der einen Seite tief vertraut wirkt, aber auf der anderen stetig seine Form ändert. Was nur dadurch möglich ist, dass einige Grundmotive in jeder Version präsent sind.
Weil die dunkelste Zeit des Jahres das Bedürfnis nach Hoffnung erzeugt, aus dem eigenen Erleben heraus; die Kälte das Bedürfnis nach Nähe (obwohl, zugegeben, Weihnachten mit künstlichen Weihnachtsbäumen, mit künstlichem Schnee und italienischem Panettone auch im tropischen Brasilien funktioniert, in dem es zu der Zeit Hochsommer ist). Das Schenken, das zu diesen jahreszeitlichen Ritualen gehört, nicht nur in der christlichen Version, ist im Kern ein soziales Versprechen, eine Geste, die Unterstützung zusagt und Sicherheit schafft. Und all die anderen Versionen, diese Jahreszeit zu gestalten, von der ägyptischen Isis über den römischen Mithraskult über keltische Wintersonnwenden haben dazu beigetragen und sind mit hörbar, so wie Obertöne bei einem guten Musikinstrument.
Aber die aktuelle Besessenheit besteht darin, alles festnageln, eingrenzen zu müssen, so, wie die ganze Transhysterie nur so tut, als sprenge sie die Grenzen von männlich und weiblich, tatsächlich aber offene Begriffe durch weit engere ersetzt, nur durch mehr davon. Dabei wird nebenbei und fast unbemerkt auch alles gekappt, was das Verbindende sein kann, das, was C. G. Jung einmal das “kollektive Unterbewusste” nannte, und was, von Joseph Campbells “Flug der Wildgans” über ein Lehrbuch, “Die Odysee des Drehbuchschreibers”, die Grundlage für Jahrzehnte an Hollywood-Produktionen legte, angefangen mit dem “Krieg der Sterne”.
Man kann sich auch an antike Mythologie halten und ihre vielen Lagen. Über Jahrhunderte, nein, über Jahrtausende lieferte die Ilias immer neuen Stoff für Umgestaltungen und Neudeutungen; die letzte deutsche war Christa Wolfs “Kassandra” (eine Lektüre, die bei der heutigen Verdrängung der Gefahr eines Atomkriegs überaus gut täte). Nicht nur, weil manchmal diese alten Geschichten das Gefühl vermitteln, man könne durch die Jahrtausende zurückgreifen und die Vergangenheit berühren, sogar die Vergangenheit der Menschheit (Campbell bezieht in sein größeres Werk, “Die Masken Gottes”, sogar die Ikonografie böser Geister auf urzeitliche Erfahrungen von Menschen ein, die selbst Beute größerer Raubtiere waren); sondern auch, weil Mythen die Erfahrungen des Unbewussten sammeln und wiedergeben und damit auf dieser Ebene eine Weitergabe ermöglichen, die vielleicht verhindern kann, unnötiges Leid zu wiederholen.
Und sie helfen, Muster zu finden, die Sinn geben. Gabriele Gysi hat jüngst ein Buch veröffentlicht, in dem sie die Annektion der DDR und den Umgang mit ihr und ihren Bürgern mit dem Drama Antigone verknüpft, dessen Heldin sich gegen den König stellt und letztlich opfert, um seinem rebellischen Neffen ein angemessenes Begräbnis zu erstreiten. Man habe dem zweiten deutschen Staat selbst eine würdige Bestattung verweigert. Das Motiv hat etwas für sich. Überhaupt ist der heutige Diskurs auf eine verdruckste Art morbide, von der vermeintlichen Lebensrettung unter Corona, die selbst höchst lebensfeindlich war, bis hin zu den permanenten Auseinandersetzungen um Grabmäler. Eine Gesellschaft, die nicht mehr imstande ist, über den Tod zu reden, weil sie sich selbst (was widerlegt ist) für das Ende der Geschichte hält, ist in Wahrheit von nichts so besessen wie vom Tod, was sich in der Begeisterung für Gemetzel zeigt, sei es im Gazastreifen oder in der Ukraine.
Aber Mythen und Märchen sind eine Sprache, die erlernt sein will. Die Zeit und Aufmerksamkeit beansprucht. Die, wenn man mit ihr vertraut ist, Distanz zum Heute ermöglicht, weil man Geschichten wiedererkennt (hat Donald Trump nicht Züge des Midas?), aber gleichzeitig auch, den einzelnen Moment mit all seinen vielen Aspekten zu erleben.
Warum sollte man aus Furcht, womöglich nichtchristliche Kinder zu beleidigen, Weihnachtsbäume verbannen? Was tut man in Wirklichkeit, wenn man nicht nur das Schöne, das Eigene nicht teilt, sondern es sogar verbannt? Wie kann man auf den Gedanken kommen, ein Mensch, der sich von seinen eigenen Gefühlen abschneidet, wäre freundlicher? Wie kann man ein kulturelles Muster von Freundlichkeit, von Fürsorge, von Hoffnung entsorgen, weil es “diskriminierend” sein soll?
Und stehen nicht die Madonna mit dem Kind oder Isis mit Osiris oder die vielarmige chinesiche Guanyin für jenen ersehnten, behüteten Zustand zwischen Symbiose und Entfaltung des Ich, den man sogar dann geben zu können wünscht, wenn man ihn selbst nicht erfahren hat?
Im Alpenland, wo Hirten jahrhundertelang zur Kultur gehörten und in manchen Regionen der Jahresrhythmus vom Almauf- und -abtrieb bestimmt war, wurde die ganze Weihnachtsgeschichte völlig eingemeindet. Das kann man bei traditionellen Krippenspielen noch merken; das ist keine Erzählung aus einem fremden Land; die Krippe steht drei Scheunen weiter, und den Ochsen daneben kennt man beim Vornamen, auch wenn die ländliche Wirtschaft, die das erzeugte, bereits seit Jahrzehnten nicht mehr vorhanden ist. Aber schon das gemeinsame Singen entschwindet, trotz seiner heilsamen Wirkung, die allein dadurch entsteht, dass eine größere Gruppe von Menschen in einem Rhythmus atmet …
Ja, das ist jetzt sehr vom einen zum anderen gesprungen, aber wenn ich darüber nachdenke, welches Bild ich von Weihnachten habe, samt all der Enttäuschungen und Katastrophen, die es im Familienleben so gibt, aber auch samt der glücklichen Momente, eingebettet in all die Gerüche und Klänge und Geschmäcker, Vanillekipferl und Annaberger Stollen, ich wollte es nicht missen. Ob man die Weihnachtsgeschichte (oder irgendeine andere religiöse Erzählung) glaubt oder nicht, ist eine persönliche Entscheidung. Oder das Produkt der eigenen Biografie. Aber fühlen können, verstehen können, was Menschen bewegt; ein Gespür dafür zu entwickeln, welche Bedeutung soziale Rituale haben, das ist unverzichtbar.
Vielleicht ist die Abneigung gegen Weihnachten, die sich in vielen dieser Momente zeigt, das Produkt privater Enttäuschungen. Aber die Enttäuschungen sind wiederum das Ergebnis dessen, dass es sich bei Weihnachten um ein Fest handelt, bei dem Emotionen erlaubt sind, die sonst eher verdrängt werden. Weil Erwartungen auftauchen, die man sich im Alltag nie eingestehen würde, die aber einem realen Bedürfnis entspringen. Wenn mich die Geschenke enttäuschen, dann erhoffe ich mir mehr vom Gegenüber, als ich erhalte. Die Lösung besteht nicht darin, den Gefühlen auszuweichen. Sie besteht darin, sie zu verstehen.
Da bin ich froh, dass meine Kinder groß sind. Dass sie noch zu St. Martin mit den Laternen durch die Straße zogen (übrigens ungeachtet der Religionszugehörigkeit der Kinder) oder zu Weihnachten wichtelten (was erst vor relativ kurzer Zeit aus Skandinavien importiert wurde); dass wir Weihnachtsbäume schmückten und den Duft von Bienenwachskerzen genossen. Die gepredigte Vielfalt ist keine. Vielfalt wäre, wenn man selbstverständlich den anderen mit zum eigenen Fest einladen und Geschenke austauschen würde. Aber das, was diese krampfhafte Distanzierung von der eigenen Tradition erzeugt, ist ein steriles Nichts, bei dem auch nichts mehr geteilt werden kann.
Doch vielleicht sind wir in diesem Jahr in der Mitte des Winters, ab jetzt weicht die Dunkelheit zurück, und bald sind die ersten grünen Spitzen des Frühlings zu sehen.
Das andere Ende der Weihnachtsgeschichte, Ostern, hat übrigens genauso viele Untertöne, bis zum Korn, das ausgesät wird, um als Getreide wieder aufzuerstehen. Das mag alles unendlich weit weg wirken in einer Welt aus Smartphones und Hochtechnologie, aber es ist bei Weitem nicht nur die unmittelbare Gegenwart, die den Menschen prägt. Wir müssen sehen, riechen, mit den Händen berühren, wir brauchen die Momente des Lichts in der Finsternis und die Geschichten, die seit Vorzeiten weitergereicht wurden, um uns selbst zu verstehen. Man kann problemlos im Internet Töne hören, denen die Obertöne fehlen. Sie schmerzen. So, wie die Verstümmelung der Bräuche schmerzt. Rettet Weihnachten!
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