
Von Astrid Sigena
In der Woche vor Weihnachten standen gleich zwei Männer mit dem Vornamen Jacques im Licht der Öffentlichkeit. Die Männer heißen Jacques Baud und Jacques Tilly. In beiden Fällen ging es um die Grenzen der Meinungsfreiheit beziehungsweise der künstlerischen Freiheit. Damit enden die Parallelen aber auch schon. Denn während Tilly ein ordentliches Verfahren vor einem Moskauer Gericht zuteilwird, wurden die EU-Sanktionen gegen den Schweizer strategischen Analysten Baud in einem Verwaltungsakt ohne vorherige Anhörung und ohne Rechtsschutzbelehrung verhängt – und das trotz erheblicher Auswirkungen auf seine Lebensführung.
Nicht umsonst spricht der deutsche Anwalt Viktor Winkler vom “bürgerlichen Tod”. Die EU-Machthaber konnten Baud, einem früheren Schweizer Offizier und NATO- sowie UN-Mitarbeiter, offenbar nicht verzeihen, dass er mit seinen sachlichen Analysen von der Linie des offiziellen Narrativs abgewichen worden ist. Wie man es von der sedierten deutschen Öffentlichkeit mittlerweile nicht anders erwartet (siehe das beredte Schweigen bei der Sanktionierung von Thomas Röper und Alina Lipp), blieb auch diesmal der Aufschrei aus. Ganz anders bei Tilly.
Wer ist nun Tilly? Es handelt sich um einen deutschen Bildhauer und Kommunikationsdesigner, der der breiten Öffentlichkeit vor allem für seine Karnevalswagen am Düsseldorfer Rosenmontagsumzug bekannt ist, die stets sehr drastisch gestaltet sind und oftmals die Grenzen des guten Geschmacks überschreiten. So stellte er zum Fasching 2025 die AfD-Vorsitzende Alice Weidel als Hexe dar, die über die mediale Präsenz ihrer Partei die Jungwähler zum Nationalsozialismus verführt – dargestellt durch einen hakenkreuzförmigen Lebkuchen. Dies brachte ihm Dutzende Strafverfahren ein, die aber offenbar im Sande verliefen – zumindest erklärte die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft die Darstellung “nach vorläufiger Prüfung” für “unbedenklich”. Man sieht schon: Tillys Kunst ist nicht die des feinen Humors, ihr ist vielmehr eine brachiale Drastik eigen. Tillys Wagen soll übrigens Medienberichten zufolge vom WDR kofinanziert worden sein, also letztlich von den Gebühren der Beitragszahler.
Seit Jahrzehnten hat der deutsche Karneval die unrühmliche Tradition, sich in den Dienst der jeweiligen Machthaber und der jeweiligen medialen Hauptströmung zu stellen. Tilly ist da keine Ausnahme. Man braucht nur die Karnevalssendungen im GEZ-Fernsehen anzuschauen. Einen schrecklichen Höhepunkt erreichte dieser oftmals sogar übereifrige Hang zur Anpassung in der NS-Zeit. Nur wenige Mutige nutzten den Fasching zur subtilen Kritik am nationalsozialistischen Regime. Stattdessen herrschten antisemitische Wagenmotive und Karnevalslieder vor. So gab es 1938 in Nürnberg einen Motivwagen, auf dem an einer “Todesmühle” als Juden gekennzeichnete Personen am Galgen baumelten. Zeitzeugen erinnern sich, dass dieser mit Beifall überschüttet wurde.
Aber zurück zu Tilly. Eines seiner beliebtesten Motive ist mittlerweile der russische Präsident Wladimir Putin. In den letzten Jahren arbeitet er dabei oft mit dem Verein “Freies Russland NRW” zusammen. Beim Düsseldorfer Karneval 2025 kamen gleich drei Putin-Wagen vor: Einer zeigte Putin als Sträfling auf Knien in Handschellen, auf seinem Rücken eine riesige Gefangenenkugel mit der Aufschrift “Putin jail!” Die Hände des Pappmaché-Putin sind blutverschmiert. Ein zweiter Mottowagen attestierte Putin und seinen Amtskollegen Donald Trump sowie Xi Jinping buchstäblich “dicke Eier” in Form eines übertriebenen Nationalismus. Und auf einem dritten Wagen schließen Trump und Putin einen “Hitler-Stalin-Pakt 2.0” (so die Aufschrift), wobei ihr Handschlag die Ukraine blutig quetscht.
Beim Karneval 2023 nahm Tillys Putin buchstäblich ein Blutbad in einer mit den ukrainischen Landesfarben verzierten Badewanne. Doch den Gipfel der boshaften Geschmacklosigkeit stellte der Motivwagen des Jahres 2024 dar: Er zeigt den russischen Präsidenten und den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill in einer sexuell eindeutigen Position. Das ging selbst manchem Zuschauer zu weit. Jedenfalls kritisierten die Kinderschützer von der Kontaktstelle Zartbitter gegen sexuellen Missbrauch von Kindern die öffentliche Zurschaustellung von Oralsex bei einer Veranstaltung, bei der auch Kinder zugegen waren. Der Düsseldorfer Rosenmontagsumzug sei schließlich ein Familienevent. Dass durch diese explizite Darstellung die Gefühle orthodoxer Gläubiger verletzt worden sein könnten, spielte hingegen keine Rolle.
Ob es das sexuelle Motiv war oder der Wagen, der Putin (und Trump) in Verbindung mit dem “Hitler-Stalin-Pakt” brachte, der die russische Justiz zum Einschreiten bewog, ist bislang ungewiss. Jedenfalls wurde am 18. Dezember in den deutschen Medien bekannt, dass in Moskau bereits am 15. desselben Monats ein Gerichtsverfahren gegen Tilly eingeleitet worden war. Der Vorwurf lautete, mit den Putin beleidigenden Arbeiten Fälschungen über die russische Armee verbreitet zu haben – und dies “aus eigennützigen Motiven und mit politischem Hass”. Dies ergibt durchaus Sinn, wenn man bedenkt, dass Putin als russischer Präsident Oberbefehlshaber der Armee ist (militärischer Oberbefehlshaber ist Waleri Gerassimow).
Der Aufschrei war groß: Karnevalisten aus Düsseldorf und Mainz solidarisierten sich mit dem Angeklagten. Der NRW-Landesminister für Europaangelegenheiten Nathanael Liminski von der CDU ließ es sich nicht nehmen, Tilly in seiner Werkstatt einen Besuch abzustatten. Und auf der Plattform X postete Liminskis Team eine Solidaritätsbekundung auf seinem offiziellen Account. Tilly sei ein “Botschafter für Freiheit und Frohsinn” hieß es da. Auch die stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, die Grüne Mona Neubaur, nahm zur Anklage Stellung: “Satire & Kunst sind keine Verbrechen, sondern Ausdruck von Meinungsfreiheit & demokratischer Kultur. Wer ernsthaft Karnevalswagen kriminalisiert, offenbart vor allem eines: Angst. In freien Gesellschaften wird Widerspruch ausgehalten – autoritäre Systeme bekämpfen ihn.”
Dies diente wiederum Kommentatoren zum Anlass, auf die zahlreichen Hausdurchsuchungen in den vergangenen Jahren wegen Politikerbeleidigung oder auch die Ermittlungen gegen Karnevalisten wegen des Verdachts auf Volksverhetzung (meistens handelte es sich um Migrationskritik) hinzuweisen: etwa 2018 in Saarbrücken, 2024 in Kempten oder 2023 in Dresden. Im Gegensatz zu Tilly bekamen diese Karnevalisten keine vorläufige Unbedenklichkeitserklärung von der Polizei.
Auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst stellte sich hinter den 2024 mit dem Verdienstorden des Landes NRW ausgezeichneten Künstler. Wüst soll sich früher selbst der Firma “So-Done” bedient haben (nach eigenen Angaben jetzt nicht mehr), die Hasskommentare gegen Politiker im Netz aufspürt, Anzeigen stellt und zivilrechtliche Ansprüche durchsetzt. Wüst soll sogar Werbung für dieses Start-up betrieben haben.
Im Fall Tilly gerierte sich Wüst jedoch als Verteidigung der künstlerischen Freiheit: “Kunst und Karneval sind gelebter Ausdruck unserer demokratischen Meinungsfreiheit”, äußerte sich der Ministerpräsident zur Anklage. Die Kunstfreiheit sei kein Gnadenrecht, sondern ein immer wieder neu zu bewahrender “Schatz einer freien Gesellschaft”. Gegenüber den Bürgern, die im Netz wütende Kommentare über ihn posteten, zeigte sich Wüst weit weniger tolerant, wie seine Inanspruchnahme von “So-Done” beweist. Wie die Schwachkopf-Affäre um den mittlerweile ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck belegt, muss man in Deutschland schon bei weit harmloseren Verunglimpfungen als bei Tillys Mottowagen mit einer Hausdurchsuchung rechnen – wenn man auf der Seite der Opposition steht.
Mittlerweile hat am Gerichtshof Basmanny in Moskau am 24.12. das Verfahren gegen Tilly begonnen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Presse wurden zunächst nur Formalien wie die Terminierung der nächsten Verhandlungstage und die Einladung von Zeugen behandelt. Tilly selbst war nicht zugegen. Der erste öffentliche Prozesstermin wird am 30. Dezember um 7.30 Uhr Ortszeit stattfinden. Tilly selbst hat schon angekündigt, nicht zum Verfahren nach Moskau zu fahren. Er habe auch keine Vorladung erhalten. Nach einer Gesetzesänderung von 2023 drohen bis zu zehn Jahre Haft für die Diskreditierung der russischen Armee. Auch eine Geldstrafe ist möglich.
Dass Tilly – sollte er verurteilt werden – in einem russischen Gefängnis schmoren muss, ist jedoch extrem unwahrscheinlich. Denn Deutschland liefert seine Staatsangehörigen an Russland nicht aus, und Tilly wird es in nächster Zeit wohl vermeiden, in Länder zu reisen, die ein Auslieferungsabkommen mit Russland haben. Es hat auch nicht den Anschein, als ob Tilly die Anklage vor dem Moskauer Gericht als Aufruf zur Mäßigung nutzen würde: Gegenüber der Presse verkündete er bereits, Putin werde beim nächsten Rosenmontagsumzug mit Sicherheit wieder Thema sein. “Putin bekommt Rosenmontag eine schöne Antwort”, versprach der Künstler. Und einer anderen Zeitung verkündete Tilly: “Kurz vor Rosenmontag ist das ein ungünstiger Zeitpunkt für Demagogen und Despoten. Da ist uns anscheinend ein kapitaler Hirsch vor die Flinte gelaufen.” Es sieht also ganz danach aus, als drehe sich die Eskalationsspirale weiter – und als falle der nächste Karnevalswagen noch gehässiger aus.
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