von Susan Bonath
Der Markt ist das Heiligtum seiner Verfechter. Mal “reagiert” er “unruhig”, mal “verhalten”. Was sollte dieser Gott mit seinem Dauerwettbewerb nicht alles schon regeln: Gut ausgestattete und effiziente Kliniken zum Beispiel. In Wahrheit führte deren Privatisierung und Unterwerfung unter das Marktdiktat zu exorbitantem Personalmangel und der Schließung wenig lukrativer Sparten, wie Kinderstationen und Kreißsälen.
Auch der Deutschen Bahn sollte dieser Schritt 1994 zu mehr Effizienz und besseren Leistungen für Fahrgäste verhelfen. Doch nun löst das Neun-Euro-Ticket beinahe Panik aus, vor dem Run auf selbiges und dessen Konsequenz: völlig überfüllten Zügen. Der Bedarf in der Bevölkerung ist demnach da, doch vielen fehlt das Geld dafür. Denn wahr ist: Der Markt, angeblich das Beste für die Menschheit, diente nie dazu, Bedürfnisse zu decken, sondern kaufkräftige Nachfrage zu befriedigen. Das ist ein großer Unterschied.
Soziale Teilhabe auf Zeit
Das Neun-Euro-Ticket, von SPD und Grünen eisern verfochten, von der FDP abgenickt, ist zweifellos gut gemeint. Es ist entspringt der sozialdemokratischen Idee von der “sozialen Marktwirtschaft”. Demnach müsse – und könne – eine Regierung den wilden Markt einfach etwas bändigen, damit der Wettbewerb, der ansonsten der Motor für Innovation schlechthin sei, nicht zu viele Verlierer ins absolute Elend befördert.
Ein paar Rechte für Lohnarbeiter hier, eine mildtätige soziale Gabe für Kranke und Arbeitslose dort, und schon seien die eigentumsbedingten Klassenverhältnisse ins Unsichtbare entschwunden. Denn jeder könne ja irgendwie teilhaben an der Gesellschaft. “Soziale Teilhabe” ist sowieso eines dieser oft von der Politik gebrauchten populistischen Schlagwörter, das an realem Inhalt zu wünschen übrig lässt.
Dieses auf drei Monate befristete Billigangebot kommt nun also daher wie eine kleine Danksagung an das Volk, das über zwei Jahre lang repressive Corona-Gängelei über sich ergehen lassen musste, dank drastischer Preissteigerungen den Gürtel immer enger schnallen soll, und an der neuen politischen Kriegsrhetorik möglichst keinen Anstoß nehmen möge. Es wirkt wie eine Belohnung für das artige Kind: Weil du so brav warst, darfst du jetzt mit Mama und Papa mal verreisen.
Und die Leute wollen raus und reisen, und für neun Euro nehmen sie auch die Tücken des deutschen Nahverkehrs auf sich, wie mangelhafte Ausstattung, lückenhafte Verbindungen – ankommen im Schneckentempo. Der Run auf das Schnäppchen sei riesig, heißt es, und zwar so sehr, dass die Eisenbahngewerkschaft sich vor einem “Stresstest” über Pfingsten fürchtet. Sie warnte sogar davor, dass Bahnhöfe wegen Überfüllung geschlossen und Züge geräumt werden könnten.
Denn der aktuelle Nahverkehr, so viel scheint den Protagonisten klar zu sein, reicht für die nunmehr ersichtliche Nachfrage keineswegs aus. Es fehlen Züge, es fehlt Personal, es fehlen Verbindungen. Aber Moment mal: Sollten nicht genau diese Probleme durch die Privatisierung der Bahn vor 28 Jahren behoben werden?
Böses Erwachen schon angekündigt
Wie das bei Belohnungsbonbons so üblich ist, sind sie allerdings schnell aufgelutscht. Die Protagonisten ahnen bereits, was dann kommt: Ein harter Rückfall in eine Gesellschaft, in der sich ein wachsender Teil der Bewohner die Teilhabe am Nahverkehr (und anderen Aktivitäten) nicht leisten kann. Die Unternehmen erwarten nach der Wohltat dann auch rapide Preissteigerungen im Nahverkehr.
So müssten die Bahnen und Busse die steigenden Sprit- und Energiepreise kompensieren, betonte Ingo Wortmann, Präsident des Verbands deutscher Verkehrsunternehmen. Er sagte:
“Wir werden mittelfristig die fehlenden Gelder auf die Fahrpreise umschlagen müssen oder das Angebot einschränken.”
Das ist der echte Markt, so wie er “leibt und lebt”.
Die Krux: Wenn eines Tages die Zahl derer, die sich den Nahverkehr nicht mehr leisten können, überhand nimmt, sinken die Einnahmen natürlich trotzdem, weil sich die hohen Preise kaum noch jemand leisten kann. Wobei die wirklich Wohlhabenden kaum die 2. Klasse der Regionalbahnen nutzen. Die Spirale weiter gedacht, wäre ein unrentables Schienennetz dann einzustampfen. Dieser Markt, den Karl Marx als automatisches Subjekt bezeichnete, ist, ironisch gesagt, ein echtes Schlitzohr.
Negative Innovation für mehr Gewinn
Na klar, der Markt bedeutet Konkurrenz auf Schritt und Tritt. Der Profit muss stimmen, ansonsten können Unternehmen – egal ob Klinik- oder Bahnbetreiber – einpacken, so wie demnächst der Bahnkonkurrent Abellio. Die Preise müssen nicht nur Löhne und Instandhaltung abdecken, sondern auch Gewinne in die Taschen der Anleger spülen.
Apropos Löhne und Instandhaltung: Das sind wohl die ersten Metiers, an denen die frisch privatisierte Bahn gespart hatte. Gleich zu Beginn soll sie die Belegschaft halbiert und einen nicht unbeachtlichen Teil vor allem kleinerer Strecken stillgelegt haben. Der Markt fragt eben nicht danach, wie Oma Elfriede von ihrer Kleinstadt den 30 Kilometer entfernten Arzt erreichen kann, sondern wie rentabel so ein “Teilhabe-Angebot” ist. Und Löhne für Beschäftigte sind eben auch Kosten.
Das Resultat der privatisierten Sparwut an Personal und Löhnen machte sich zum Beispiel an einem Wochenende im März 2018 bemerkbar. Der Winter war zurückgekehrt, es hatte, natürlich völlig unerwartet, geschneit – und fast der gesamte Bahnbetrieb in Deutschland stand still. Zehntausende Fahrgäste saßen auf Bahnhöfen fest, teils zwei Tage lang und über Nacht. Nichts ging mehr.
Der Grund war fehlendes Fachpersonal, wie der Lokführer Bernd Sickert damals im Gespräch mit der Autorin sagte. Es sei, anders als zu DDR-Zeiten, kaum jemand verfügbar gewesen, der schneeverwehte und eingefrorene Weichen von der kalten Last befreien und in den betriebsbereiten Zustand versetzen konnte. Mehr noch: Es fehlte auch an Busfahrern und Winterdiensten, um die wartenden und frierenden Fahrgäste über Landstraßen und Autobahnen an ihre Ziele oder nach Hause zu befördern.
27 Jahre Preisexplosion
Der heiß gelobte Markt ließ – und lässt – bei der Bahn aber nicht nur in seiner viel beschworenen Funktion als Innovationsmaschine zu wünschen übrig. Auch die Preise machten kleine Inlandsausflüge für Otto Normalbürger immer unerschwinglicher. Das illustriert sehr anschaulich die Geschichte vom “Schönes-Wochenende-Ticket”, das inzwischen durch das “Quer-durchs-Land-Ticket” ersetzt wurde, sehr anschaulich.
Kurz nach der Privatisierung führte die Bahn im Jahr 1995 dieses Ticket als Superangebot ein. Damals, vor 27 Jahren, konnten fünf Personen für 15 D-Mark ein gesamtes Wochenende lang im Nahverkehr durch Deutschland reisen. Ende 2017 mussten dieselben fünf Personen 68 Euro abdrücken, um nur einen Tag zu reisen. Für zwei Tage wurden also bereits 136 Euro fällig.
Gemessen am Wert des Euros bei seiner Einführung und nicht inflationsbereinigt ist das ein Preisanstieg um das 18-Fache in 22 Jahren. Auch ohne in den Statistiken nachzuschlagen kann man mit Sicherheit behaupten: Die Löhne sind nun nicht gerade um das 18-Fache gestiegen.
Heutzutage kostet übrigens ein “Quer-durchs-Land-Ticket” bereits für einen Reisenden 42 Euro, für maximal vier weitere Mitfahrer kommen jeweils sieben Euro dazu. Fünf Personen müssen also nunmehr 70 Euro abdrücken, um quer durch Deutschland zu reisen, und dies nur einen Tag lang – Tendenz steigend. Die Senkung der Umsatzsteuer auf Bahntickets von 19 auf 7 Prozent, eine der politischen Corona-“Wohltaten” 2020, war kaum spürbar. Vom Sparticket für Ärmere kann keine Rede mehr sein.
Wer immer also kann, sollte die aktuelle Wohltat am besten leidlich nutzen. Wer weiß, wann sich später noch einmal die Gelegenheit bietet, so günstig durch Deutschland zu reisen. Denn den Markt in seinem Lauf halten vielleicht irgendwann mal “Ochs und Esel” auf (oder das Ende der natürlichen Ressourcen), definitiv aber nicht die Marktschreier in der Bundesregierung.
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