Von Marcus Vinicius De Freitas
Bei dem direkten israelischen Luftangriff gegen iranische Nuklear- und Militäranlagen vom 13. Juni handelt es sich laut einer Analyse auf dem chinesischen Onlineportal China Daily nicht nur um ein weiteres Scharmützel, sondern um einen gefährlichen Sprung ins Ungewisse. Dieser bedrohe nicht nur die Zukunft des Nahen Ostens, sondern die der ganzen Welt, heißt es in dem Artikel vom Freitag.
Teherans wütende Verurteilung des Angriffs als “Kriegserklärung” und seine Berufung auf den UN-Sicherheitsrat würden vielmehr die Schwere dieses Konflikts und seine tiefgreifenden, unvorhersehbaren Folgen unterstreichen. Seitdem lieferten sich die beiden Länder gegenseitige Luftangriffe.
Der israelische Angriff vom 13. Juni war der drastische Höhepunkt einer seit Ende 2023 von Israel geführten gezielten Kampagne zur Zerschlagung iranischer Einrichtungen und entsprechender Stützpunkte: von Hisbollah-Hochburgen im Libanon bis hin zu den Kommandostrukturen der Hamas im Gazastreifen. Er gipfelte in einem direkten Schlag gegen Teheran und seine sensibelsten Nuklearstandorte. Was ist das Ziel? Die strategische Widerstandsfähigkeit Irans zu zerstören und möglicherweise einen Regimewechsel herbeizuführen.
Die jahrzehntelange Darstellung Irans als größte existenzielle Bedrohung für Israel durch den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu bildete die ideologische Grundlage für den Angriff. Seine Sicherheitsdoktrin basiert auf der Überzeugung, dass das Überleben des israelischen Staates Präventivmaßnahmen erfordert. Unermüdlich hat er die militärische Vorherrschaft Israels vorangetrieben. Mit der Schwächung der Hisbollah, der Zersplitterung Syriens und der Bekämpfung der Huthi stand Iran als letzte, mächtige Bastion des Widerstands da.
Der Zeitpunkt war genau kalkuliert: Es galt, die inneren Spaltungen Irans, die Isolation seiner Verbündeten und die weltweite Aufmerksamkeit für die humanitäre Katastrophe in Gaza auszunutzen. Indem er das Augenmerk wieder auf Teheran lenkt, will Netanjahu von den zunehmenden Vorwürfen des Völkermords in den palästinensischen Gebieten ablenken. Mittlerweile finden die Vorwürfe sogar bei Verbündeten wie Großbritannien und Frankreich Gehör. Gleichzeitig versetzt der Angriff der Wiederbelebung des Atomabkommens mit Iran in naher Zukunft einen möglicherweise fatalen Schlag.
Dabei sind die direkten geopolitischen Auswirkungen voller Widersprüche. Das in der Region erhöhte Risiko hat eine Flucht in sichere Anlagen ausgelöst, was wiederum die Rendite von US-Staatsanleihen in die Höhe getrieben hat. Dieser unerwartete finanzielle Glücksfall kommt US-Präsident Donald Trump zugute und stärkt seine innenpolitische Position nach den jüngsten Rückschlägen am “Tag der Befreiung”.
Doch diese Krise offenbart auch die Widersprüchlichkeiten in der derzeitigen US-Politik. Die gegensätzlichen Aussagen von Trump und Außenminister Marco Rubio zur Unterstützung Israels durch die USA zerstören jede Illusion, dass Washington als ehrlicher Vermittler auftreten könnte. Die Botschaft ist erschreckend klar: Die Diplomatie ist tot, es herrscht die rohe Gewalt.
Netanjahus Strategie erinnert uns an bekannte, gefährliche Präzedenzfälle. Die gezielten Morde an Wissenschaftlern und Regierungsbeamten spiegeln die langjährige Kampagne des Mossad wider, die Schwachstellen Irans aufzudecken. Und seine Rhetorik erinnert uns an die Rechtfertigung des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush für die Invasion des Irak aufgrund von Phantom-Massenvernichtungswaffen.
Auch heute besteht diese Parallele fort: Trotz Israels anhaltender Warnungen hat die Internationale Atomenergiebehörde bestätigt, dass Iran über kein einsatzfähiges Atomwaffenarsenal verfügt. Für Netanjahu dient die “atomare Bedrohung” in erster Linie als Kriegsgrund für einen Regimewechsel.
Die Geschichte lehrt uns jedoch eine ernüchternde Lektion: Die von den USA angeführten Regimewechsel in Libyen, Afghanistan und im Irak brachten den Menschen keine Stabilität, sondern Chaos und anhaltendes Leid. Ein geschwächter Iran läuft Gefahr, in Bürgerkrieg oder Zersplitterung zu versinken, ohne dass ein kohärenter Plan für die Zeit danach vorliegt.
Der Schatten der USA ist groß. Die Verbindung zwischen Netanjahu und Trump ist gut dokumentiert, und die parteiübergreifende Unterstützung der USA für Israel bleibt eine geopolitische Konstante. Offiziell hat Washington eine direkte Beteiligung an dem Angriff dementiert. Doch die Signale sind unmissverständlich: Einsätze zur Verstärkung des “Iron Dome”, Reisewarnungen und vorsichtig unverbindliche offizielle Erklärungen. Trumps eindeutige Unterstützungsbekundungen in den sozialen Medien lassen kaum Zweifel an einer gemeinsamen Linie. Die Vereinigten Staaten bleiben untrennbar in dieses labile Kalkül verstrickt.
Die Folgen werden schwerwiegend und nachhaltig sein. Während die Schäden an der Oberfläche offensichtlich sind, ist der tatsächliche Rückschlag für das tief unter die Erde verlegte Atomprogramm Irans ebenso unbekannt wie die potenziellen radioaktiven Gefahren. Entscheidend ist, dass der Angriff möglicherweise das Gegenteil seines erklärten Ziels bewirkt.
Als weltweit am stärksten beobachteter Anwärter auf Atomwaffen hat Iran nun reichlich Gründe, sein Atomprogramm heimlich zu beschleunigen und seine unterirdische Abschreckung auszubauen. Netanjahus Offensive könnte die von ihm befürchtete atomare Bedrohung eher noch verstärken, anstatt sie zu verringern. Gleichzeitig könnte Teheran dies nach internationalem Recht eine gewisse Legitimität für Vergeltungsmaßnahmen verleihen.
Die Eskalation im Nahen Osten zerstört aber auch die fragilen diplomatischen Beziehungen. Die von China vermittelte Annäherung zwischen Iran und Saudi-Arabien wird hoffentlich als seltener Hoffnungsschimmer in einer angespannten Region fortgesetzt. Israels Angriffe auf Iran untergraben alle Bemühungen zum Aufbau eines kollektiven Sicherheitsrahmens. Stattdessen normalisieren sie den Einsatz von militärischer Gewalt anstelle von Verhandlungen als Standardmechanismus zur Lösung von Konflikten.
Das zentrale Dilemma bleibt bestehen: Israels Angriff auf Iran ist ein strategischer Schachzug mit hohem Risiko, dessen Auswirkungen weit über die unmittelbaren Einschlaggebiete hinausreichen. Damit will Israel die nuklearen Ambitionen und den regionalen Einfluss Irans zunichtemachen und seine eigene Vorherrschaft wiederherstellen. Doch dieses Vorgehen birgt die Gefahr, eine Kettenreaktion von Vergeltungsmaßnahmen und eine noch größere Instabilität auszulösen. Sie verzögert den Weg zum Frieden, anstatt ihn zu beschleunigen, und festigt einen instabilen Status quo.
Letztendlich bleibt Israels größte Herausforderung unverändert: die Sicherung seiner Legitimität in einer Region, die seine Präsenz weitgehend ablehnt und seine moralische Autorität in Frage stellt. Präzisionsbomben können nicht das Vertrauen, die gegenseitige Anerkennung und die robusten Sicherheitsgarantien schaffen, die für einen dauerhaften Frieden unerlässlich sind.
Die Zukunft hängt nicht nur von der Reaktion Teherans ab. Sie hängt auch davon ab, ob die Weltmächte entschlossen genug verhindern können, dass sich der Konflikt ausweitet. Die Lehren aus der Geschichte sind eindeutig: Präventivkriege führen selten zu dauerhaftem Frieden. Eine prinzipientreue Diplomatie, so mühsam sie auch sein mag, ist dringend erforderlich, bevor sich die Kriegsrhetorik zu einer unumkehrbaren Realität verfestigt.
Marcus Vinicius De Freitas ist Gastprofessor an der China Foreign Affairs University und Senior Fellow des Policy Center for the New South, einem in Marokko ansässigen Think Tank.
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