Von Dagmar Henn
Wenn man das Grauen betrachtet, dass derzeit aus den westlichen Gesellschaften herausfließt wie Blut aus den Körperöffnungen eines am hämorrhagischen Fieber Erkrankten, wenn man dieser Flut an Meldungen ausgesetzt ist, fragt man sich, ob Irrsinn und Normalität die Plätze getauscht haben und die Humanität, die man einst als erreichbares Ziel sah, vollständig zur Illusion geworden ist. Und irgendwie rauscht dann ein historisches Bild in den Sinn, erst einmal als Rätsel, wie immer bei solchen Gedanken. Luther und der Ablasshandel. Ein Gedanke, der sogleich auch vermeldet, dass er von Jüngeren vielleicht gar nicht mehr gedacht werden kann, weil Luther ja Antisemit war und daher vergessen werden sollte…
Ich versuche, den Moment in heutige Sprache zu übersetzen, um das Rätsel zu lösen. Der Ablasshandel war eine wirtschaftlich brilliante Lösung: unter Einsatz der damals modernsten Technologie, dem Buchdruck, wurde die personalintensive Beichte als Dienstleistung durch Verkauf von Gutscheinen ersetzt, die dem Käufer ewige Seligkeit versprachen und der vatikanischen Bürokratie helfen sollten, eine neue Verwaltungszentrale mit repräsentativen Bauten in Rom zu errichten.
Luthers zentrale These, mit der er sich gegen dieses einträgliche Geschäft wandte, war, modern ausgedrückt, dass sich die persönliche Verantwortung nicht durch ein Finanzgeschäft abwälzen lässt. Seine Rechtfertigungslehre, nach der es immer in der Gnade Gottes liegt, ob das eigene Handeln als verwerflich oder als gerechtfertigt anzusehen ist, und sich diese Frage nicht durch gute Taten und schon gar nicht durch Geld aufheben lässt, könnte man heute so formulieren, dass Selbstzweifel die Grundlage jeder Moralität sind.
Selbstzweifel, derer sich die Ablasskäufer entledigen. Selbstzweifel, die übrigens nicht nur die Entwicklung der Philosophie anschoben, sondern nebenbei das Tagebuch und den modernen Roman entstehen ließen. Die aber auch einer der Ausgangspunkte von fast 150 Jahren voller Bürger- und Religionskriege waren, an deren Endpunkt dann, im Augenblick völliger Erschöpfung, mit dem Westfälischen Frieden das Völkerrecht das Licht der Welt erblickte.
Dieses Bild des Ablasshandels hat sich mir im Verlauf der Jahre immer wieder aufgedrängt. Innerhalb der Linkspartei beispielsweise, in der ich verblüfft feststellte, dass viele Mitglieder eigentlich gar nicht wirklich Politik machen wollten, sondern die Mitgliedschaft nur eine Art Zertifkat war, die ihr Gutsein bescheinigte. Oder auch während der Corona-Zeit, als ein amtlich verordneter Ethik-Muckefuck genügte, um breite Mehrheiten zum Gehorsam zu drängen. Dass nur eine Minderheit Maßnahmen wie die Abschottung der Pflegeheime oder die Misshandlung der Schulkinder durch Kälte und Maskenpflicht infrage stellte, war auch Beleg dafür, wie gern die Abtretung moralischer Erwägungen als erleichternde Maßnahme angenommen wird. Genau das Angebot, das der Dominikaner Johann Tetzel dereinst auch machte.
“Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt”, dieser Tetzel zugeschriebene Spruch ist sicher einer der geschichtlich bedeutendsten Werbeslogans. Die Rückseite dieses Angebots, und das war vielleicht der Grund, warum Luther rebellierte, ist die bizarre Befreiung von moralischen Hemmungen, mit einer kleinen Schlagseite, was die unterschiedlichen finanziellen Möglichkeiten betrifft. Dass heute eine Luisa Neubauer als positive Gestalt gilt, ohne dafür ihren Reichtum teilen zu müssen, das funktioniert auch auf Grundlage eines Ablasshandels.
Vielleicht das extremste Beispiel für dieses Muster ist die bedingungslose Unterstützung Israels, die die deutsche Politik derzeit geradezu zelebriert. Kern dieser Beziehung war immer schon das Geld, und zu Zeiten der Adenauer-Regierung war das überaus durchschaubar, eine einfache Reinszenierung des Tetzelschen Zaubers, hinter der alle Leichen in den bürgerlichen Kellern aufs Angenehmste zum Verschwinden gebracht werden konnten.
In dieser Hinsicht war das Aufbegehren, das am Ursprung der RAF lag, dem Umwerfen des Verkaufsstands des Herrn Tetzel durchaus ähnlich, denn es war im doppelten Sinne das Einfordern von Verantwortlichkeit, das sich darin, wenn auch auf verdrehte Weise, äußerte – die Verantwortlichkeit der Täter für ihre Taten, die eben nicht durch den Ablass aus der Welt war, wie auch die Verantwortlichkeit der Nachfahren, selbst in einem tieferen Sinne moralisch zu handeln. Nun, dieses Aufbegehren wurde bald domestiziert und zu großen Teilen in eine Partei überführt, die geradezu die Verkörperung des Ablasshandels in Permanenz darstellt: die Grünen.
Die Aggression, mit der heute auf abweichende Meinung reagiert wird, ruht in diesem Ablasshandel. Denn der vermeintliche individuelle Gewinn durch den Erwerb des Ablasszettels, die Einsparung des Selbstzweifels, das vermeintliche Glück, das der Illusion eigener Vollkommenheit entspringt, ist fragil und in Gefahr, sobald die Wirksamkeit des Ablasses infrage gestellt wird. Die Inhumanität, die derzeit fröhliche Urständ feiert, ist aufs Engste mit der westlichen Hybris verwoben, die schon vorab jede Untat rechtfertigt, als Generalabsolution unter dem Etikett “westliche Werte”. Oder “europäische”. Egal.
Wenn man die Aussagen deutscher Politiker zum Genozid in Gaza liest, oder zuletzt zum israelischen Angriff auf Iran, oder die Jubelschlagzeilen der deutschen Presse über ukrainische Terroranschläge, ist es vor allem die (nicht immer) unterschwellige Begeisterung für die verübten Verbrechen, die den Atem raubt. Es wird wahrgenommen wie eigene Größe, als Berauschendes, Ersehntes. Die Abtretung von Schuld, Verantwortung und Selbstzweifel ist Vorbedingung und Ergebnis in einem, in einer sich stetig auf höhere Ebenen schraubenden innigen Umarmung einer DNA des Unmenschlichen.
Nur, gleich wie sehr jede individuelle Verwirrung zum Kult erhoben wird, die Existenz des menschlichen Tiers ist nur in der Zusammenarbeit möglich, und die Jahrhunderttausende haben die Forderung der Gerechtigkeit selbst in unser Hormonsystem eingeschrieben. Das, was man früher das schlechte Gewissen genannt hätte, oder das, was Luther dazu trieb, eine Rechtfertigung jenseits des Tauschs Geld gegen Ware zu suchen, entschwindet nicht, sondern bleibt, selbst wenn es aus Körper und Bewusstsein exorziert wird, erhalten, wie das Bildnis des Dorian Gray.
Die Freiheit, die sie zu genießen meinen, die Roderich Kiesewetters und Ursula von der Leyens, hat eine unauslöschliche Kehrseite, denn die Verdammnis, die sie in immer neuen Grenzziehungen wie “Delegitimierung des Staates” oder “Antisemitismus” an anderen zu exorzieren suchen, liegt in ihnen selbst. Die Hölle, das sind nicht die anderen. Die Hölle harrt im eigenen Ich.
Gäbe es irgendwo das Bildnis der Ursula von der Leyen, ich würde es nicht sehen müssen wollen. Oder das eines Benjamin Netanjahu. Der ganze politische Zirkus des Westens dürfte sich ausnehmen wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch.
Die einfache Frage, die Luther aufgeworfen hat, ist, ob ein Mensch im Stande ist, selbst sein Handeln abschließend zu beurteilen; und ob man nun auf ein religiöses Muster zurückgreift und diese Frage Gott anheimstellt, oder es aus dem Blickwinkel der Geschichte betrachtet, die Antwort lautet im Grunde immer: Er ist es nicht. Die Selbstzweifel sind notwendige Konsequenz dieser Tatsache – so, wie das Eingeständnis des möglichen Irrtums die Voraussetzung der rationalen Entscheidung ist.
Der Ablasskäufer hingegen ist darauf angewiesen, sich schrittweise immer weiter von dieser Wirklichkeit zu entfernen, da das eigene monströse Spiegelbild mit jeder Selbstüberhöhung an Kraft gewinnt. Die eigenartige Spirale der Zensur, die sich immer schneller zu drehen scheint und jede wirkliche Kommunikation erstickt, wird durch die innere Angst angetrieben, dem dunklen Spiegelbild begegnen zu müssen, und ist darum weder rationalen Argumenten zugänglich noch kennt sie ein natürliches Ende.
Dabei ist das Ergebnis, passend zu den erweiterten technischen Möglichkeiten, weitaus schlimmer als das des originalen Ablasshandels, der schließlich nicht zur Finanzierung von Gemetzeln, sondern nur zu der des Petersdoms diente. Geradezu unschuldig, wenn man das mit dem heutigen Kriegsgeschrei vergleicht und bedenkt, wie erbarmungslos Menschen gleich zu Hunderttausenden dem Wahn geopfert werden.
Der erste Weltkrieg folgte auf eine relativ lange Phase der Ruhe. Es gibt einen frühen Roman von Heinrich Mann, Im Schlaraffenland, der im Jahr 1900 erschien und die bessere Berliner Gesellschaft beschreibt, in dem das Heute mühelos wiederzuerkennen ist. Ein Text, dem das Wissen um das Kommende noch abgeht, in dem man aber die Hybris, die dem Blutbad vorausging, nicht übersehen kann. Ebensowenig wie den Teil, den der Unterschied zwischen Arm und Reich dazu beiträgt.
Es ist Selbstüberhebung, Zeltstädte von Obdachlosen hinnehmend zu ignorieren, als handle es sich dabei um ein Naturphänomen. Das laute Knirschen im Gebälk, das in der Finanzmarktkrise zu vernehmen war, wurde erfolgreich mit falscher Zuversicht überspielt, so gründlich, dass der wirkliche Zustand der materiellen Lebensgrundlage längst behandelt wird wie eine schlechte Fiktion. Die Techniken, mit denen der Laden am Laufen gehalten wurde, verstärkten letztlich nur das ursprüngliche Problem, während der drohende Zusammenbruch zu den anderen Monstern ins Unbewusste verbannt wurde.
Die Fiktion kann kein Personal gebrauchen, das den Blick auf die Wirklichkeit richtet. Die Zeit liefert Wirtschaftsminister, die eher Zauberkünstlern ähneln als Buchhaltern, denn ihre wichtigste Aufgabe besteht darin, den Blick des Publikums immer wieder in die falsche Richtung zu lenken. Die vermeintlichen Vertreter der Demokratie verwandeln sich in Hohepriester der Ungleichheit, denen der Bruch in den Zuständen so tabu ist wie die Erwähnung des Stricks im Haus des Gehenkten. Personen, die keine sind, sondern nur Scheinbilder ihrer selbst – wie die europäische Schneekönigin von der Leyen, herzlos, empathiefrei und rechenschaftslos –, sind geradezu Idealbesetzungen für das erbarmungslose Schauspiel.
Man sehnt sich nach dem menschlichen Maß, um der Unmenschlichkeit entrinnen zu können, nach demokratischen Verhältnissen. Aber die materiellen Zustände, die immer neue Opfer erfordern, unter immer neuen Vorwänden, um die unersättlichen Bedürfnisse zu viel aufgehäuften Reichtums zu befriedigen, und die eigenartige Weltabgewandheit, jene Kaste von Halbgöttern, die alle Selbstzweifel abgelegt hat, verstärken einander stets von Neuem. Und nichts ist ihnen ferner als die Vorstellung von Gleichheit.
So sitzt Tetzel heute, blond und toupiert statt mit Tonsur, im Kostüm in der EU-Kommission und vertreibt seine Zettel digital, mit vielen Filialen in allen Parlamenten und Medien. Und jede Rückkehr zur Menschlichkeit erfordert es, den Tisch umzuwerfen und daran zu erinnern, dass in allen menschlichen Adern das gleiche Blut fließt und alle gleichermaßen sterblich und fehlbar sind.
Womit wenigstens klar wäre, warum ich dieses kriegslüsterne Geschrei höre und dabei an Tetzel, Luther und die Ablasszettel denken muss.
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