Von Astrid Sigena und Wladislaw Sankin
Am Mittwochvormittag lief die Meldung durch die Medien: In einer Ipsos-Umfrage liegt die Alternative für Deutschland zum ersten Mal vor der Union, der künftigen Regierungspartei. Auch wenn derzeit keinerlei Aussichten auf eine Regierungsbeteiligung für die AfD bestehen (die nächste reguläre Bundestagswahl ist erst in vier Jahren, Merz kann also durchregieren und wird die Brandmauer sicherlich so lange wie möglich aufrechterhalten), rückt die AfD damit ihrem Ziel wieder ein beträchtliches Stück näher, die Verhältnisse in Deutschland in ihrem Sinne zu verändern. Als größte Oppositionspartei im Bundestag hat die AfD immerhin die Möglichkeit, den künftigen Bundeskanzler Merz medial vor sich herzutreiben. Das ist auch dringend nötig, denn noch immer sind die von Merz der Ukraine versprochenen Taurus-Lieferungen nicht vom Tisch.
Drei Hürden hat die AfD allerdings auf ihrem Weg zur Friedenspartei zu überwinden: Das eine ist ihre Affinität zur Bundeswehr (Gegner der AfD würden hier von “Militarismus” sprechen), das andere ihre erinnerungspolitische Agenda (von ihren Gegnern wird der Partei “Revanchismus” unterstellt), das dritte ist die Scheu weiter Teile der Partei vor Bündnissen mit linken Gruppierungen. Wobei die Scheu vor entsprechenden Kooperationen für den guten Zweck der europäischen Friedenswahrung genauso stark auf der linken Seite vorhanden ist.
Wenn zum Beispiel die DKP Sachsen zu einer Kundgebung anlässlich des 80. Jahrestags des Treffens von US-amerikanischen und sowjetischen Truppen bei Torgau einlädt und dabei “Nazis” und “Rassisten” ausschließt, gebraucht sie die im Mainstream gängigen Codewörter für die AfD. Dabei handelt es sich bei der DKP-Veranstaltung ausdrücklich um eine “Friedensdemonstration”, also ein Anliegen, das gerade in Ostdeutschland viele AfD-Anhänger bewegen dürfte. Ermutigend ist dagegen ein von CDU und AfD gemeinsam mit dem BSW getragener Beschluss im Zwickauer Stadtrat, der Bundeswehr Werbung in dieser Stadt zu verbieten.
Es ist allseits bekannt, dass die AfD in ihrem Wahlprogramm die Rückkehr zur Wehrpflicht fordert. Parteichefin Weidel plädierte sogar für einen zweijährigen Wehrdienst und die Aufwendung von bis zu fünf Prozent des BIP für Aufrüstung, der AfD-Verteidigungspolitiker Rüdiger Lucassen für eine Wehrpflicht auch für Frauen und – man höre und staune! – deutsche Atomwaffen. Besonnenere Stimmen wie Björn Höcke erkennen dagegen die Gefahr, die in der gegenwärtigen aufgeheizten Stimmung einer militarisierten BRD in der Wehrpflicht liegt, und mahnen zur Mäßigung. Es wird also darauf ankommen, dass die AfD nicht auf ein entsprechendes Angebot vonseiten der Altparteien hereinfällt, ihre friedenspolitische Agenda zugunsten der Versuchung, aus Deutschland die größte Militärmacht Europas zu machen, aufzugeben.
Die AfD sieht ihre Aufgabe auch darin, den deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs einen würdigen Platz in der nationalen Erinnerungskultur zu verschaffen. Deutlich wird dieser Wunsch häufig bei den Kontroversen um die Deutung des 8. Mai als “Tag der Befreiung”, wie Äußerungen der AfD-Landtagsabgeordneten Oliver Kirchner und (erst jüngst) Dr. Christoph Berndt sowie des bayerischen AfD-Landesvorsitzenden Stephan Protschka zeigen. Die AfD wird nicht bereit sein, diesen 1985 vom damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker aufgestellten bundesrepublikanischen Gesslerhut zu grüßen, auch auf die Gefahr hin, die potenziellen russischen Partner zu verärgern.
Eine Einigung dürfte aber dennoch möglich sein, solange es der AfD-Führung gelingt, die russophobe Minderheit in ihrer Partei zu zähmen, und sie den Wunsch der Russen respektiert, getreu dem Zwei-plus-vier-Vertrag der sowjetischen Kriegstoten in Würde und ungestört gedenken zu können. Davon abgesehen könnte es dem deutschen-russischen Verhältnis nur guttun, wenn auch den sowjetischen Opfern des Zweiten Weltkriegs mehr Platz im deutschen Gedenken eingeräumt würde.
Das wäre auch moralisch angebracht. Es tut den Russen und Weißrussen als jenen Vertretern der Sowjetrepubliken, die am meisten unter den Verbrechen der Wehrmacht gelitten haben, weh, ihre immensen Opfer so zur Seite gedrängt zu sehen (Anmerkung am Rande: Von den Ukrainern ist an dieser Stelle keine Rede, denn das offizielle Kiew hat es vermocht, eine geschichtsrevisionistische Wende zugunsten der neobanderistschen Kräfte zu vollziehen, was zu einem der Auslöser für den seit drei Jahren tobenden Krieges wurde. Was besonders deutlich zeigt, welche verheerende Folgen das Herumhantieren an der Deutungshoheit über den verheerendsten Krieg der Geschichte nach sich ziehen kann).
Selbst wenn man den Politikern von der AfD guten Willen unterstellt, bleibt ungewiss, ob sie ihre dem deutschen Wähler gegebenen Versprechen auch einhalten können, aus Deutschland wieder ein blühendes Land zu machen. Es kann sein, dass die Machtübernahme der AfD zu spät kommt und zur Rettung des Landes harte, tief einschneidende Reformen nötig sein werden. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass die Altparteien, sollten sie ihre Macht abgeben müssen, ihren Nachfolgern von der AfD so viel verbrannte Erde wie möglich hinterlassen werden.
Die zahlreichen Problemfelder, deren Bearbeitung und Lösung auf die AfD warten, weichen aber vor der großen Gefahr zurück, dass Deutschland und Europa noch einmal zum Kriegsschauplatz werden könnten. Das Bild eines atomar verwüsteten, unbewohnbaren Mitteleuropas überlagert alle Gefahren, die Deutschland sonst noch drohen. Gelingt es der AfD zusammen mit allen friedensorientierten Kräften, den Krieg gegen Russland zu verhindern, hat sich die Partei mit dieser Leistung ihren Platz in den Geschichtsbüchern verdientermaßen gesichert.
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