von Kubatbek Rachimow
Kirgisistan trat der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) im Jahr 2015 bei und hat in diesem Jahr den Vorsitz in der EAEU inne. In erster Linie ist darauf hinzuweisen, dass die eurasische Integration die am zweitstärksten ausgeprägte Integration der Welt ist (nach der Europäischen Union), und die weltweit erste in Bezug auf das Tempo der Integrationstransformation. Die Schaffung der Eurasischen Wirtschaftsunion sollte der Stärkung der nationalen Volkswirtschaften und der ökonomischen Fähigkeiten der Mitgliedsstaaten in der Weltwirtschaft dienen.
Das setzte die Realisierung von vier Freiheiten voraus, nämlich des freien Waren-, Dienstleistungs-, Finanz- und Arbeitskräfteverkehrs. Die Gründung erfolgte zu einer Zeit weltweiter Wirtschaftsinstabilität und geopolitischer Veränderungen in Eurasien, die sich auf die Situation innerhalb der EAEU auswirkten.
Heute ist die Frage aktuell, welche Aussichten für die volkswirtschaftliche Entwicklung der Mitgliedsstaaten bestehen, im Rahmen ihrer Beteiligung an dem eurasischen Integrationsprojekt.
Eine der wichtigsten Prioritäten der EAEU ist die Schaffung gemeinsamer Märkte der Union – für Energie, Agrarindustrie, Pharmazeutika, Arbeit, sowie eines gemeinsamen Dienstleistungsmarktes, einschließlich der digitalen Wirtschaft, die in der Tat grenzenlos ist. Im Rahmen der EAEU funktioniert ein gemeinsamer Markt für Waren mit einem gemeinsamen Zollgebiet und einem gemeinsamen Zollkodex. Dank dieser Rechtsvorschriften hat sich die Zeit für das Inverkehrbringen von Waren um das Sechsfache verkürzt, und die Zeit für die Eintragung einer Zollanmeldung wurde halbiert.
Seit sieben Jahren besteht ein gemeinsamer Arbeitsmarkt. Die Staatsbürger der fünf Staaten dürfen im Hoheitsgebiet des jeweils anderen frei arbeiten und genießen die gleichen Rechte wie die Bürger des Aufenthaltslandes. Zur Weiterentwicklung dieses gemeinsamen Arbeitsmarktes wurde außerdem ein Abkommen über Renten ausgearbeitet und verabschiedet, das am 1. Januar 2021 in Kraft getreten ist.
Im Rahmen der Strategie 2025 wird aktiv an der Umsetzung anderer gemeinsamer Märkte (Finanzmarkt, gemeinsamer Markt für Verkehrsdienstleistungen und gemeinsamer Markt für Energieressourcen) gearbeitet. Das Konzept und die Maßnahmen zur Schaffung gemeinsamer Märkte für Erdöl und Erdölprodukte in der EAEU wurden bereits genehmigt. Dasselbe Paket von Vertragsdokumenten wurde auch für den gemeinsamen Gasmarkt angenommen. Als nächste wichtige Etappe ist die Annahme internationaler Verträge über die Schaffung gemeinsamer Märkte für Gas, Erdöl und Erdölprodukte in der EAEU vorgesehen.
Im Jahr 2021 hat die EAEU das Volumen des gegenseitigen Handels auf ein historisches Maximum von 72,6 Milliarden Dollar gesteigert. Dieser Wert wurde zum ersten Mal in den sieben Jahren des Bestehens der Union erreicht. Gegenüber 2020 ist dies ein Anstieg um 32 Prozent, und gegenüber 2019 eine Steigerung um 17 Prozent. Der Außenhandel mit den Drittländern der Union verzeichnete im vergangenen Jahr ebenfalls ein beträchtliches Wachstum: Mit über 844 Milliarden Dollar sind es 35 Prozent mehr als im Jahr 2020, wobei die Importe um 23 Prozent und die Exporte um 44 Prozent stiegen.
Was die Szenarien für einen Austritt aus der EAEU betrifft, so widersprechen sie direkt den nationalen Interessen Kirgisistans. Sie würden dramatische Folgen für die Wirtschaft des Landes haben und zu einer drastischen Verschlechterung der sozioökonomischen Situation insgesamt führen.
- Es würde zu einem drastischen Einbruch bei den Einkünften der Wanderarbeiter kommen, zu einer drastischen Verschärfung der Bedingungen für ihren Aufenthalt in Russland und zur Heimkehr von mindestens 200.000 bis 300.000 Menschen. Dadurch würde ein fruchtbarer Boden gelegt für regierungsfeindliche Demonstrationen.
- Die Tätigkeit des Russisch-Kirgisischen Entwicklungsfonds und der russischen Investoren würde eingestellt, die direkte Budgetunterstützung durch Russland beendet.
- Ein Austritt aus der EAEU bedürfte der Wiederherstellung des Zollperimeters mit Kasachstan und der Wiederherstellung eines vollständigen Zollabfertigungssystems in Richtung Kasachstan und Russland, ebenso wie einer angemessenen Zollabwicklung der von dort ausgehenden Frachten. Das würde einen Teil der ausfallenden Haushaltseinnahmen aus dem gemeinsamen “Topf” der Zollunion ausgleichen, wenn auch nicht vollständig. Ein drastischer Rückgang der Geschäftseinnahmen aus dem Re-Export und dem Export eigener Produkte würde soziale Spannungen zur Folge haben und sich auf die Inflationsrate im Lande auswirken, wegen der deutlich geringerer Steuerbemessungsgrundlage. Der Schätzwert für den Einnahmenrückgang des Staatshaushalts bemisst sich auf 40 Prozent bei steigender Belastung des Staatshaushalts durch Tilgung der Staatsschuld.
- Die nationale Währung würde im Umfang von 140–150 Som für 1 Dollar entwertet. Der Diskontsatz der Nationalbank der Kirgisischen Republik würde auf bis zu 20 Prozent pro Jahr erhöht, um eine Hyperinflation zu vermeiden.
- Es käme zu einer starken Marginalisierung der Gesellschaft, da der islamische Extremismus sicherlich zunehmen würde. Auch bestünde die Gefahr einer Regionalisierung und das Risiko einer “Afghanisierung” der Gesellschaft, in Anbetracht eines stark sinkenden Lebensstandards und der Rückkehr von mehreren hunderttausend Migranten aus Russland nach Kirgisistan.
Folglich ist der Austritt aus der EAEU keine Lösung für die Probleme unseres Landes. Vielmehr sollte Kirgisistan in der gegenwärtigen Situation seine Nische innerhalb der Union finden; und zwar als ein Land, das eine Reihe von Produktionsprojekten aus der Russischen Föderation im Rahmen der Unionsprogramme aufnehmen und die Ausfuhren verschiedener Produkte auf den gemeinsamen Markt der EAEU erheblich steigern kann. Kirgisistan hat auch in Bezug auf touristische Attraktionen und Sommerurlaub viel zu bieten.
Eine ziemlich liberale Steuerpolitik, ein erleichtertes Bankenregime, die Verwendung der russischen Sprache als Geschäfts- und Amtssprache und eine maximale Unterstützung für Investitionsprojekte machen Kirgisistan zu einem zuverlässigen Verbündeten für seine strategischen Partner in der Eurasischen Wirtschaftsunion.
Der Autor nimmt an der Zweiten Zentralasiatischen Konferenz des Waldai-Clubs am 17. und 18. Mai in Nischni Nowgorod teil.
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