Von Igor Garnow
Anscheinend sind die USA bereit, eine weitere rote Linie zu überschreiten – und dieses Mal eine, die sie besser nicht überschreiten sollten. Es wird behauptet, dass Joe Biden den Ersuchen des Chefs des Kiewer Regimes nachgegeben und Angriffe mit US-Raketen tief im russischen Hoheitsgebiet erlaubt hat.
Zunächst einmal handelt es sich um ballistische US-Raketen vom Typ ATACMS (Reichweite 300 Kilometer), US-Marschflugkörper vom Typ JASSM (Reichweite 370 Kilometer), britische Marschflugkörper vom Typ Storm Shadow und ihre französische Variante SCALP-EG (beide mit einer Reichweite von bis zu 560 Kilometern). Obwohl sowohl die britische als auch die französische Staatsführung diese Einsatzoption derzeit leugnen, sollte sie dennoch nicht aus den Augen verloren werden.
Entscheidend ist jedoch nicht der Einsatz westlicher Waffensysteme an sich, sondern der Umstand, dass diese nur unter Beteiligung von NATO-Militärangehörigen eingesetzt werden können. Eine solche Beteiligung bedeutet wiederum die unmittelbare Verwicklung der NATO in einen Konflikt mit Russland.
Nach Angaben der Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa wird die russische Antwort in einem solchen Fall angemessen und spürbar sein. Ein solcher Raketenschlag würde “eine direkte Beteiligung der USA und ihrer Satelliten an den Kampfhandlungen gegen Russland sowie eine radikale Veränderung des Wesens und der Natur des Konflikts” bedeuten.
Russlands Präsident Wladimir Putin begründete das wie folgt:
“Die ukrainische Armee ist nicht in der Lage, mit modernen westlichen Präzisionsmilitärsystemen mit großer Reichweite zuzuschlagen, … Dies ist nur mithilfe von Satellitenaufklärungsdaten denkbar, über die die Ukraine nicht verfügt. Es handelt sich um Daten von EU- oder US-Satelliten, also eigentlich von NATO-Satelliten. Dies erstens.
Zweitens – und das ist sehr wichtig, vielleicht sogar das Wichtigste –, können nur Militärangehörige der NATO-Länder Flugaufträge für diese Raketensysteme erteilen. Ukrainische Militärs sind dazu nicht in der Lage.”
Wie erfolgt in einem solchen Fall – rein technisch gesehen – die Beteiligung des NATO-Militärs? Sie beginnt, wie bereits angedeutet, mit der Satellitenaufklärung.
Die US-Militärsatellitengruppierung verfügt über mehr als 400 Satelliten, darunter mehrere Dutzend Aufklärungssatelliten. Die EU und andere NATO-Verbündete haben weit weniger Satelliten. Die Ukraine verfügt ihrerseits über keinen einzigen, sodass die ukrainischen Streitkräfte vollständig auf nachrichtendienstliche Informationen aus dem Westen angewiesen sind.
Die bloße Übermittlung nachrichtendienstlicher Informationen scheint noch keine vollwertige Konfliktbeteiligung zu sein. Doch bei der reinen Weitergabe von Satellitenbildern bleibt es nicht. Die Bilder müssen in speziellen Datenverarbeitungszentren entschlüsselt und interpretiert werden. Weltweit gibt es nur wenige solcher Zentren, in der Ukraine gibt es kein einziges.
In den USA erledigt die National Geospatial-Intelligence Agency (NGA) diese Aufgaben, in Frankreich das Centre d’Expertise de la Défense (CED) und im Vereinigten Königreich die Defence Intelligence Organisation. Darüber hinaus gibt es NATO-Strukturen wie z. B. die NATO Communications and Information Agency (NCIA), das Allied Joint Force Command und das Allied Command Operations (ACO), die Daten zur Unterstützung militärischer Operationen verarbeiten und auswerten können. Alle Zentren sind durch duplizierte digitale Kommunikationsverbindungen miteinander verbunden. Derzeit sind sie alle für die ukrainischen Streitkräfte tätig.
In all diesen Zentren werden vor allem – aber nicht nur – Satellitenaufklärungsinformationen in Echtzeit verarbeitet. Die verarbeiteten Informationen dienen als Grundlage für die Ermittlung der genauen Zielkoordinaten, was im militärischen Sprachgebrauch als Zielbestimmung bezeichnet wird, d. h. des Punktes, an dem eine Waffe einschlagen soll.
Kann man nicht auch öffentlich verfügbare Daten von Kartendiensten wie Google Maps, Yandex Maps oder anderen ähnlichen Diensten verwenden, um eine Zielbestimmung vorzunehmen? Schließlich werden dort auch Objekte angezeigt, die mit genauen Koordinaten auf dem Gelände verbunden sind. Können die ukrainischen Streitkräfte beispielsweise Google Maps für Angriffe auf russische Einrichtungen verwenden?
Ja, die Koordinaten einer kritischen Infrastrukur-, Industrie- oder Energieanlage können auf diese Weise erfasst werden. Doch zwei Datentypen findet man in diesen Geodiensten nicht.
Dabei handelt es sich zum einen um Daten über Truppenverbände, die Anwesenheit von Flugzeugen auf Flugplätzen, Schiffen in Stützpunkten und Luftverteidigungseinrichtungen. Diese Daten ändern sich rasch und müssen schnell verarbeitet werden. Zum Zweiten gehören dazu Daten über das Geländehöhenprofil von hoher Genauigkeit. Dabei handelt es sich um ein Radarporträt eines Geländes, das für die Konstruktion der Raketenrouten entscheidend ist. Diese Daten wurden von vielen Generationen von Raumfahrzeugen und zivilen Flugzeugen gesammelt.
So etwas gibt es weder in der Ukraine noch in öffentlich zugänglichen Geodiensten. Diese Parameter sind aber zwingend erforderlich für die Erstellung von Flugaufträgen für Hochpräzisionswaffen mit großer Reichweite.
Stellen wir uns als Beispiel den Arbeitsablauf der ukrainischen Besatzung des von den USA an die ukrainischen Streitkräfte übergebenen HIMARS-MLRS-Systems vor. Der Kommandant dieser Besatzung drückt einen fiktiven “roten Knopf”, um die ATACMS-Rakete zu starten. Zuvor muss die Rakete jedoch mit einem Flugauftrag geladen werden, sonst fliegt sie nach dem Start irgendwo anders hin als zum Ziel.
Die eigentlichen Flugaufträge werden normalerweise nicht im Kabinenraum eines bodengestützten Raketenwerfers oder Flugzeugs erstellt. Dies geschieht in den oben erwähnten Zentren. Es handelt sich um einen langen Weg und ein komplexes Verfahren, das die Mitwirkung vieler Spezialisten unterschiedlicher Profile erfordert.
Zunächst werden die von den NATO-Satelliten empfangenen Aufklärungsinformationen über Ziele an die ukrainischen Hauptquartiere übermittelt. Dort erfolgt die Entscheidung, welche Ziele beschossen werden sollen. An den HIMARS-Kontrollpunkten wird ein bestimmter Raketenwerfer ausgewählt, um die zugewiesene Aufgabe zu erfüllen. Der gesamte Informationsaustausch erfolgt über sichere digitale NATO-Kommunikationsleitungen, in erster Linie über Link-16.
Nach dem Eintreffen von HIMARS an der Abschussposition wird mithilfe von GPS sowohl die Position des Raketenwerfers auf den Zentimeter genau bestimmt als auch die Orientierung zu den Himmelsrichtungen auf ein Hundertstel Grad genau ermittelt. Diese Werte werden an die NATO-Informationsverarbeitungszentren weitergeleitet. Dort erstellen Spezialisten auf Grundlage der empfangenen Daten ein Computerprogramm, das den Raketenflug während des jeweiligen Fluges steuern wird. Dieses Programm wird als Flugauftrag bezeichnet. Bei den Spezialisten, die das Programm erstellen, handelt es sich um Militärs aus NATO-Ländern, in der Regel aus den USA.
Der so erstellte Datensatz wird anschließend an den HIMARS-Raketenkomplex zurückgegeben. Der Kommandant gibt den Flugauftrag in den Bordcomputer ein und schießt die Rakete ab.
Bei einigen NATO-Raketensystemen können die Kommandanten die Zielkoordinaten selbst im Kabinenraum eingeben. Der Flugauftrag wird dann vom Bordcomputer berechnet. Jedoch lässt das Steuerungsprogramm die Eingabe von Parametern, die beispielsweise die Rakete auf NATO-Territorium lenken würden, schlichtweg nicht zu. Um den Einsatzbereich der Rakete zu erweitern oder die entsprechenden Sicherheitssperren zu entfernen, ist wiederum das Eingreifen von NATO-Personal in den entsprechenden Kontrollzentren erforderlich.
Die Eingabe des Flugauftrags für Storm-Shadow-Marschflugkörper auf Su-24-Bombern und F-16-Jagdbombern sieht ungefähr gleich aus. Die einzige Besonderheit besteht in der Beweglichkeit der Bordwand des Flugzeugträgers als Abschusspunkt. Die Marschflugkörper können jedoch ihren Kurs anhand eines Radarporträts des Geländes korrigieren. Sie verfügen sogar über ein Objektfoto, was die Ungenauigkeiten bei der Ansteuerung des Startpunkts und den Fehler bei der Startzeit ausgleicht. Der Pilot bzw. die Besatzung bestimmen also auch hier keinesfalls, wohin und wie die Rakete fliegen wird.
Somit handelt es sich bei den ukrainischen Bedienern von Raketenwerfern und US-Raketenträgern lediglich um Fahrer und Wartungspersonal. Deren Aufgabe besteht lediglich in der Anfahrt des Fahrzeugs zur Position, der Erfassung der eigenen Koordinaten, der Übermittlung dieser Koordinaten an das Kontrollzentrum und dem Drücken der Eingabetaste, nachdem der von Spezialisten programmierte Flugauftrag eingetroffen ist.
Die eigentliche Steuerung der Zielauswahl und der Vorbereitung der Flugaufträge obliegt den – zumeist US-amerikanischen – NATO-Militärangehörigen. Genau darin besteht die direkte Beteiligung der NATO am Ukraine-Konflikt.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 18. November 2024 zuerst bei der Zeitung Wsgljad erschienen.
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