Von Timur Fomenko
Westliche Medien übertrafen sich kürzlich mit Spekulationen um die Vorgänge rund um Chinas Außenminister Qin Gang. Nach einem kurzen Abtauchen wurde Qin als Außenminister abgesetzt und durch Wang Yi ersetzt, der bereits zuvor das Amt innegehabt hatte, während gleichzeitig alle Hinweise auf Qin von der Website des chinesischen Außenministeriums gelöscht wurden.
Natürlich bezeichneten einige Kommentatoren diese Vorgänge als “Säuberung” und stellten sie in einem möglichst negativen Licht dar. Es wurden unterschiedliche Interpretationen angeboten hinsichtlich des Schicksals von Qin oder darüber, was geschehen sein könnte. Dies macht es schwierig, zum Kern der Sache vorzudringen.
Medien des westlichen Establishments lieben Geschichten über “Säuberungen” in China, meist, weil sie dadurch in einen negativen Diskurs über den Kommunismus eintauchen und eine brutale Staatsmacht zeichnen können, die jeden, ohne mit der Wimper zu zucken, durch Verhaftung, Hinrichtung oder Exil verschwinden lassen kann. Während im Westen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und Politiker, die in Skandale verwickelt wurden, sich möglicherweise dafür entscheiden, den Ball flach zu halten und die Medien zu meiden, wird im Fall von China bei ähnlichen Fällen von den westlichen Medien stets eine staatlich gelenkte Strafmaßnahme hineininterpretiert. Beispiele hierfür sind die Vorgänge rund um Jack Ma von Alibaba und die Tennisspielerin Peng Shuai. Immer geht man davon aus,, dass deren “Ball flach halten” nicht freiwillig ist.
Was die Medien jedoch gerne ignorieren, ist, dass man in China einen wesentlich sensibleren Umgang mit der “Öffentlichkeit” pflegt als im Westen. Während praktisch jede Kultur auf der Welt in unterschiedlichem Maße Wert auf öffentliche Wertschätzung legt, will man in China und in asiatischen Ländern aufgrund des kulturellen Erbes des Konfuziunismus tugendhaft auftreten und die Ehre des Familiennamens bewahren. Und daher verliert man in China bereits schon bei geringfügigen Vergehen schneller sein Gesicht als im Westen. Chinesen sind vor allem viel sensibler und rücksichtsvoller in ihren öffentlichen Bekenntnissen als wir im Westen.
Während bei Qin ein möglicher Skandal privater Natur eine jener Theorien ist, die herumgereicht werden, könnte es sich gemäß einer anderen Theorie möglicherweise um einen Machtkampf zwischen zwei Flügeln innerhalb des chinesischen Außenministeriums gehandelt haben, was die Ungereimtheiten erklären würde. Wie dem auch sei, Qin Gang wurde nicht “gesäubert”. Der Machtkampf fand wahrscheinlich zwischen Hardlinern – sogenannten “Wolfskriegern” – und den Pragmatikern statt, die eine sanftere Diplomatie bevorzugen, und Qin gehört eindeutig zum Lager der Wolfskrieger. Aus genau diesem Grund war er auch Chinas Botschafter in den USA, weil er eine robustere Haltung gegenüber Washington einnimmt. Es ist jedoch anzumerken, dass der eigentliche Posten des Außenministers Chinas nicht wirklich dasselbe bedeutet, wie wir ihn im Westen verstehen. Er ist eher eine Galionsfigur der die Rolle eines Delegierten einnimmt, der aber keine politischen Entscheidungsbefugnisse hat. Diese liegt beim Politbüro.
Und hier kommt Wang Yi ins Spiel. Wang, der frühere Amtsinhaber, der diese Rolle wieder übernommen hat, ist Mitglied des Politbüros, das sich sehr nahe am eigentlichen Machtzentrum des kommunistischen Staates befindet. Im Politbüro bekleidet Wang Yi außerdem das Amt des Direktors der Kommission für auswärtige Angelegenheiten. Das bedeutet, dass die eigentliche Macht in der diplomatischen Entscheidungsfindung Chinas in seinem Fall direkt über ihm liegt: bei Xi Jinping. Dies war bei Qin Gang, der ein hierarchisch untergeordnetes Amt des Außenministers innehatte, nicht der Fall. Tatsächlich ist Wang Yi ein äußerst zurückhaltender Mensch mit einer sehr gemäßigten, sanften Form der Diplomatie, die ein wesentlicher Faktor für seinen Erfolg war, als er zuvor dieses Amt bekleidete. Er ist das genaue Gegenteil eines Wolfskriegers.
Derzeit befindet sich Chinas Diplomatie wieder in einer “friedfertigen” Phase. Nachdem Peking die USA, nach der Hysterie um den Vorfall mit dem “Spionageballon” Anfang des Jahres, monatelang ignoriert hatte, versucht es nun, wieder positiver auf Washington und seine Verbündeten zuzugehen. Pekings Strategie besteht darin, mithilfe der Diplomatie zu versuchen, die geopolitischen Spannungen abzumildern, die USA daran zu hindern, multilaterale Koalitionen gegen China zu schmieden und in ein strategisches Umfeld wie im Kalten Krieg zu eskalieren. China strebt nach Stabilität und Entspannung, und wenn sich eine solche abzeichnet, werden Wolfskrieg-Persönlichkeiten wie Qin Gang nicht “gesäubert”, sondern aus dem Fokus genommen. Ein ähnliches Beispiel ist die Neuzuweisung von Zhao Lijian vom Posten des Sprechers des chinesischen Außenministeriums hin zu einer weniger bedeutenden Rolle.
Eines ist klar: Wang Yi hat echte Macht, Qin Gang hatte die nicht. Alarmistische Spekulationen über Säuberungen und “Verschwindenlassen” verschleiern die Realität, dass es in jedem Staatsapparat der Welt zu Machtkämpfen kommen kann, wenn es um die Verteilung von Posten in verschiedenen Ämtern geht, oft zwischen konträren Fraktionen. Die Einsetzung von Wang Yi gibt uns Einblick, in welche Richtung die chinesische Politikgestaltung voraussichtlich gehen wird. Die Vorgänge rund um Qin Gang mag für Außenstehende verwirrend sein und lässt sich leicht ausnutzen, um China zu verunglimpfen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem, was China in seinen Beziehungen zu anderen Ländern erreichen will, könnte viel zur Klärung beitragen.
Aus dem Englischen
Timur Fomenko ist ein politischer Analyst
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