Sie soll sich durch die Wüste im trockenen Nordwesten des Landes ziehen und wird auch als „The Strip“ bezeichnet. In Broschüren und öffentlichen Erklärungen der Stadtplaner ist die Rede von leuchtenden Stränden, Skipisten, einem künstlichen Mond, Roboter-Butlern und fliegende Taxis.
Doch hinter dem ausgefallenen Plan des mächtigem, saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman verbirgt sich eine viel dunklere Realität. Der Kronprinz hat seine Beziehungen zu Chinas Staatschef Xi Jinping gestärkt, der sich bereit erklärt hat, leistungsstarke Überwachungstechnologie bereitzustellen.
Jili Bulelani, ein Stipendiat der Harvard University, erklärte im Gespräch mit „Business Insider“: Xi versuche, „seine Vision eines staatlich gelenkten Cyberspace und einer überwachten Öffentlichkeit zu normalisieren und zu legitimieren“. Der Wissenschaftler untersucht Chinas globale Ambitionen schon länger.
Laut eines Berichts der Denkfabrik „Washington Institute“ hat China bereits Überwachungstechnologie für andere Länder bereitgestellt. Unter anderem für die Einrichtung sogenannter „sicherer Städte“ in Ägypten und Serbien, die auf der Grundlage von Nutzerdaten betrieben werden.
Doch was steckt eigentlich genau hinter dem Konzept der Stadt Neom?
Die saudische Wüstenstadt Neom
Neom ist das Herzstück des Versuchs Mohammed bin Salmans, das Land zu modernisieren. Hierüber will er die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen verringern. Neom soll eine sogenannte kohlenstofffreie Stadt der Zukunft werden.
„Es ist eine Eintrittskarte für ihn, sich als der saudische Führer zu etablieren, der das Land modernisiert und in ein neues technologisches Zeitalter führt“, sagte Marwa Fatafta. Sie ist Policy Managerin bei der in Berlin ansässigen Organisation für digitale Rechte „Access Now“.
Der Geschäftsführer von Neom, Giles Penderton, erklärte in der Zeitung „The National“, dass die Bauarbeiten für das Projekt zügig voranschreiten. Bis 2045 soll die Stadt neun Millionen Einwohner beherbergen.
THE LINE will be an architectural marvel running in a straight line from the mountains of NEOM to the Red Sea.
A city built to deliver a new future for humanity.#TheLINE #NEOM pic.twitter.com/5v9NhqFe2p
— NEOM (@NEOM) July 25, 2022
Nach Angaben des Entwicklers wird Neom aus zehn Regionen bestehen. Eine Region, die sogenannte „Line“, wird als kohlenstofffreies Gebiet vermarktet. Dort sollen die Daten der Bewohner genutzt werden, um die Dienstleistungen an ihre Bedürfnisse anzupassen. Wurden in aktuellen Smart Citys bisher etwa zehn Prozent der möglichen Nutzerdaten verwendet, sollen es in der Stadt Neom 90 Prozent sein, heißt es von den Stadtplanern.
James Shires, ein Forscher der Londoner Denkfabrik Chatham House, erklärte „Business Insider“, dass der Kronprinz eine Stadt anstrebe, in der Dienstleistungen von der Müllabfuhr über das Gesundheitswesen bis hin zu den Zugfahrzeiten durch Daten aus Quellen wie Smartphones und Überwachungstechnologie geregelt werden.
„Neom soll diese [anderen smarten Städte] überholen und von Grund auf sozusagen von Anfang an Daten sammeln und diese Daten für die Zwecke der Stadt nutzen“, sagte er.
Einige Stimmen, darunter die Berliner Policy Managerin Fatafta, warnen jedoch davor, dass sich hinter der futuristischen und luxuriösen Vision in den Neom-Broschüren ein dunkleres Projekt verbirgt, das den autoritären Instinkten des Kronprinzen Mohammed entspricht. Die „Smart City“-Funktionen seien nicht nur eine futuristische Attraktion, sondern könnten als Instrument für eine umfassende Überwachung durch staatliche Sicherheitsdienste eingesetzt werden, befürchtet sie.
Wie stark ist China am Neom-Projekt beteiligt?
Im Dezember letzten Jahres empfing Mohammed bin Salman Xi in Saudi-Arabien zu einem groß angelegten Gipfel, bei dem die beiden Staatsoberhäupter eine Zusammenarbeit in einer Vielzahl von Fragen ankündigten, unter anderem im Bereich der Überwachungstechnologie.
Für Kronprinz Mohammed schien dies der Beginn einer fruchtbaren Partnerschaft zu sein. Nach Ansicht von Experten hat er in Xi eine Führungspersönlichkeit gefunden, die seine Überzeugung teilt, dass die Technologie es ihnen ermöglichen kann, ihre Wirtschaft auszubauen und gleichzeitig nichts von ihrer autoritären Kontrolle abzugeben.
„Wir sehen [in Saudi-Arabien] noch nicht das gleiche Ausmaß an physischer Überwachung wie beispielsweise in China, aber China arbeitet mit den Saudis und anderen Golfstaaten zusammen, um dies zu realisieren“, sagte Annelle Sheline, eine Forscherin des Quincy Institute in Washington, DC, gegenüber „Business Insider“. „Das ist etwas, das die Chinesen an die Saudis und andere Golfstaaten verkaufen“, sagte sie.
James, der Forscher von Chatham House, sagte, eine Form dieser Technologie seien Überwachungskameras. Sie seien mit einer Gesichtserkennungstechnologie verbunden sind, mit der sich die Vergangenheit und die Bewegungen einer Person in Echtzeit verfolgen ließen.
„Ein echtes Risiko für die Privatsphäre der Menschen. Je nachdem, wie die Daten gesammelt und gespeichert werden“, sagt er über die Technologie. Diese ermöglicht, Aufnahmen von Überwachungskameras mit anderen Datensätzen über eine Person, einschließlich biometrischer Informationen, zu verknüpfen.
Ein weiteres potenzielles Problem ist die Cloud-Technologie, insbesondere die Unternehmen, die große Mengen an Computerdaten speichern. Der chinesische Telekommunikationsriese Huawei hat bereits Verträge mit Saudi-Arabien unterzeichnet, unter anderem in Neom. James sagte, es gebe viele Fragen dazu, wie viel Datenschutz das Unternehmen den Nutzern in der Stadt bieten würde.
Huawei antwortete nicht sofort auf die Anfrage von „Business Insider“, sich zu seiner Rolle in der Neom zu äußern. Auch ein Sprecher der Neom antwortete nicht auf eine Anfrage, in der es um Bedenken zur Überwachung in der Stadt ging. Saudi-Arabien hat kürzlich seine Datenschutzgesetze verschärft, aber Organisationen wie Human Rights Watch haben davor gewarnt, dass die Gesetze zu schwach sind.
Wie könnte Neom Überwachung einsetzen?
Während er sich selbst als Reformer darstellt, ist Kronprinz Mohammed mit Kritikern und Gegnern der saudischen Regierung brutal umgegangen, so auch 2018 bei der Ermordung und Zerstückelung des saudischen Dissidenten Jamal Khashoggi.
Im Zuge der Festigung seiner Macht hat er auch daran gearbeitet, seine Möglichkeiten zur Überwachung von Kritikern mithilfe von Technologie zu verbessern und so Andersdenkende zu unterdrücken. Die saudische Regierung setzte die israelische Spionagesoftware Pegasus ein, um Kritiker zu überwachen.
Weiterhin infiltrierte ein saudischer Agent Twitter, um die persönlichen Daten von Regierungskritikern von der Plattform zu stehlen. Erst in jüngster Vergangenheit hat die saudische Führung ein brutales Vorgehen gegen Personen eingeleitet, die die Regierung online kritisieren. Menschenrechtsgruppen prangerten es lautstark an.
„Der Kronprinz Mohammed versucht zwar, das Königreich in eine Hightech-Zukunft zu führen und es für Investitionen und Innovationen zu öffnen. Aber wer wird keine seiner Befugnisse zur Überwachung und Unterdrückung abweichender Meinungen aufgeben“, glaubt die Berliner Policy Mangerin Fatafta. „Sie werden als ‚Ökostädte‘ oder ‚intelligente Städte‘ vermarktet, wir nennen sie Überwachungsstädte“, sagte Fatafta über Projekte wie Neom.
„In einem Land wie Saudi-Arabien, in dem es keinen Datenschutz oder Sicherheitsvorkehrungen gibt, keine Aufsicht, keine Rechenschaftspflicht, keine Transparenz, keine Gewaltenteilung und die Tatsache, dass MBS die Sicherheitsbehörden beherrscht. Das ist eine beängstigende Vorstellung.“
slang sind die grandiosen Ambitionen von Kronprinz Mohammed noch weit davon entfernt, verwirklicht zu werden. Es bleibt abzuwarten, ob der für seine Impulsivität bekannter Herrscher die Geduld haben wird, ein Projekt dieser Größenordnung durchzuziehen. James sagte, dass die Pläne für die Stadt grundlegende Fragen darüber aufwerfen, wie wir unser Leben leben wollen.
„Was für ein Leben wollen Sie in einer intelligenten Stadt führen?“, fragte er. „Wenn Sie in einer Stadt leben wollen, in der die Meinungsfreiheit, die Gegenkultur, der Ausdruck und die Diskussion unabhängiger Gedanken einen hohen Stellenwert haben, dann ist dies vielleicht nicht der richtige Ort für Sie.“
Dieser Artikel erschien zuerst bei „Business Insider“ und wurde von Marius Gerards aus dem Englischen übersetzt. Das Original finden Sie hier.