Von Alexander Männer
Am 24. Februar jährt sich der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Diese Entscheidung Russlands, in sein vom Bürgerkrieg geplagtes Nachbarland zu intervenieren, war ein Paukenschlag auf der internationalen Bühne und zog eine Reihe folgenschwerer Reaktionen des “kollektiven Westens” nach sich. So verhängten die USA, Kanada, Großbritannien, die Mitglieder der Europäischen Union und andere Staaten nur wenige Tage nach dem Beginn der “speziellen Militäroperation” die ersten “schwerwiegenden” Sanktionen gegen Moskau, deren Gesamtanzahl inzwischen mehrere Tausend ausmachen soll.
Allein die EU hat bislang zehn Sanktionspakete verabschiedet, wobei Medien zufolge an weiteren Maßnahmen gearbeitet wird. Offiziell sollten diese Maßnahmen laut dem EU-Parlament “die wirtschaftliche Basis Russlands schwächen, ihm den Zugang zu kritischen Technologien und Märkten versperren und somit seine Fähigkeit zur Kriegsführung erheblich einschränken”.
In Wirklichkeit ging es von Anfang an darum, Russlands Wirtschaft zu vernichten und das Land in den Ruin zu treiben, was die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock bereits einen Tag nach der russischen Invasion auch angekündigt hatte. Wenige Wochen danach erklärte die US-Finanzministerin Janet Yellen selbstsicher, dass “die russische Wirtschaft als Folge dessen, was wir bereits getan haben, am Boden zerstört sein wird”.
Doch obwohl zahlreiche Wirtschaftsexperten Russland ebenfalls einen schnellen wirtschaftlichen Zusammenbruch vorausgesagt haben, wurde relativ schnell klar, dass die russische Wirtschaft unerwartet widerstandsfähig zu sein scheint. Bis heute konnten die Sanktionen die im Westen erhoffte Wirkung nicht erzielen – sie konnten weder die russische Wirtschaft zerstören noch das finale Ziel, den “Regime Change” in Russland, herbeiführen.
Knapp ein Jahr nach den ersten Kampfhandlungen des Ukraine-Krieges und der besagten Sanktionspolitik ist die Wirkung der antirussischen Wirtschaftsbeschränkungen genauestens analysiert worden. Die Ergebnisse fallen dabei jedoch unterschiedlich aus: Ein Teil der Experten ist von einer langfristigen Wirkung der Sanktionen überzeugt, die sich bislang noch nicht entfaltet hat. Andere konstatieren, dass die Sanktionspolitik im Grunde gescheitert ist.
Fokussierung auf antirussische Sanktionen schadet der Ukraine
Davon, dass die Sanktionen Russland bislang nicht entscheidend schwächen konnten, geht auch der bekannte US-Sanktionensexperte Nicholas Mulder aus. Mulder, der Historiker für europäische und internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Cornell University sowie Autor des Buches “Die Wirtschaftswaffe: Der Aufstieg von Sanktionen als Werkzeug des modernen Krieges” ist, hat in einem Gastartikel für die New York Times in Bezug auf die westlichen Sanktionen ein durchaus unerwartetes Urteil gefällt: Die Fokussierung des Westens auf die antirussische Sanktionspolitik lenkt von der Situation in der Ukraine ab und schadet so dem Land.
Denn während Russland sich an die Beschränkungen anpassen konnte und es dort keinen katastrophalen wirtschaftlichen Rückgang gegeben hätte – wobei in naher Zukunft sogar Wirtschaftswachstum erwartet werde –, befinde sich die ukrainische Wirtschaft in einer katastrophalen Lage, so Mulder.
Er stellt sich im Weiteren die Frage: “Welche (Wirtschaft – Anm. d. Verf.) steckt in größeren Schwierigkeiten? Eine Wirtschaft von 1,8 Billionen Dollar, die um drei Prozent geschrumpft ist, oder eine Wirtschaft von 200 Milliarden Dollar, die ein Drittel ihres BIP verloren hat?”
Es sei angesichts dessen notwendig, meint der Experte, dass der Westen sich vor allem auf die dauerhafte Hilfe für die Ukraine konzentriere. “Während die Militärhilfe in den jüngsten Debatten verständlicherweise von größter Bedeutung war, besteht die langfristige Herausforderung darin, die ukrainische Wirtschaft auf einen Weg der vollständigen Integration in den Westen zu bringen. In der Zwischenzeit muss sie abgestützt werden, um einen Zusammenbruch zu verhindern. Diese Aufgabe kann nicht warten, bis der Krieg vorbei ist.”
Deshalb werde die wirtschaftliche Stärkung der Ukraine sehr große Investitionen in Infrastruktur, Industrie, Landwirtschaft sowie massive Unterstützung in den Bereichen Bildung, Gesundheitsfürsorge, soziale Dienste und die Schaffung kompetenter Institutionen erfordern, heißt es.
In der Tat ist eine eigene beständige wirtschaftliche Basis für die Ukraine notwendig, um erfolgreich Krieg gegen Russland zu führen. Eine funktionierende Volkswirtschaft sorgt nämlich dafür, dass ein Landes in der Lage ist, Waffen nicht nur zu produzieren oder beschädigte Militärtechnik wieder instand zu setzen, sondern auch das Leben der Bevölkerung in solchen Krisenzeiten nicht außer Acht zu lassen.
Dies alles kann die Ukraine gegenwärtig aus eigener Kraft kaum gewährleisten, da das Krisenland unlängst fast ausschließlich von Zuschüssen, Krediten und Almosen aus den westlichen Ländern lebt. Es ist insofern kaum davon auszugehen, dass sich das bald ändert, da der Konflikt mit Russland sich hinzieht und die Zeit dabei nicht für die Ukraine spielt.
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