Der russische Präsident Wladimir Putin hat dem russischen Parlament, der Staatsduma, am Dienstag einen Gesetzentwurf zur Kündigung unter der Schirmherrschaft des Europarats geschlossener internationaler Verträge vorgelegt, wie aus dem in der elektronischen Datenbank der Duma veröffentlichten Gesetzesentwurf hervorgeht.
Im Fall der Annahme des Gesetzgebungsvorschlags werden in Russland unter anderem die nachfolgend aufgezählten Konventionen keine Gültigkeit mehr haben:
– das Statut des Europarates;
– das Allgemeine Abkommen über die Vorrechte und Befreiungen des Europarates und seine fünf Protokolle;
– die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und ihre zehn Protokolle;
– das Europäische Übereinkommen zur Bekämpfung des Terrorismus;
– die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung;
– die Europäische Sozialcharta.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die benannten internationalen Verträge des Europarats rückwirkend ab dem 16. März 2022 als in Russland nicht mehr wirksam gelten.
Die im Rahmen des Europarats geschlossenen Verträge und Konventionen, die über mehrere Jahrzehnte zustande gekommen waren, traten in Russland mit dessen Beitritt zum Europarat 1996 in Kraft. Nachdem der Europarat schon seit 2014 wiederholt die Rechte der russischen Delegation einseitig beschnitten hatte, suspendierte der Europarat Russlands Mitgliedschaft am 25. Februar 2022. Russland erklärte daraufhin am 15. März 2022 den lang erwarteten und von der russischen Öffentlichkeit geforderten Austritt aus dieser internationalen Organisation.
Am 7. Juni hat die Staatsduma den Austritt Russlands aus dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), einer Teilstruktur des Europarats, und die Unwirksamkeit seiner Urteile und Beschlüsse in Russland beschlossen. Dieses Gesetz wurde von Wladimir Putin kurz darauf unterzeichnet. Urteile, die in Straßburg nach dem 15. März 2022 gefällt wurden, werden durch Russland nicht mehr umgesetzt.
Russland hatte in letzter Zeit wiederholt eine Politisierung dieses Straßburger Gerichts und dessen Rechtsbeugung zulasten Russlands kritisiert. So hatten die Straßburger Richter bei einem der Strafurteile gegen Alexei Nawalny einen Verstoß gegen das Prinzip “Keine Strafe ohne Gesetz” ausgemacht, weil der Schuldspruch auf einem Betrugsparagrafen in einer Auslegung beruht hatte, die beispielsweise in Deutschland schon immer selbstverständlich gewesen war. Während in Deutschland und anderen Ländern Europas der sogenannte Eingehungsbetrug bei nahezu identischem Wortlaut der Strafnorm schon immer bestraft worden war, hatten die Gerichte in Russland den Betrugsparagrafen bis dahin einschränkend ausgelegt und änderten ihre Praxis der Rechtsprechung erst im Fall Nawalny.
Dabei gehört es zu allgemein anerkannten Grundsätzen, dass Richter im kontinentalen Rechtssystem “das Recht nicht schaffen, sondern entdecken”. Deshalb verstößt eine veränderte Auslegung des Gesetzes durch ein Gericht nicht gegen das Rückwirkungsverbot, wie dieselben Richter in vergleichbaren Fällen einer Rechtsprechungsänderung beispielsweise deutscher Strafgerichte stets entschieden haben und weiterhin entscheiden. Nur im Fall Russlands haben die Richter in Straßburg aus durchsichtigen politischen Motiven heraus abweichend “Recht gesprochen”.
Zuletzt fiel auch auf, dass der EGMR Prozesse über Menschenrechtsverstöße in der Ukraine jahrelang verschleppte und – wenn er sich überhaupt einmal zu entscheiden bequemte – selbst bei offensichtlichen und gravierenden Verstößen des ukrainischen Staates überwiegend zu dessen Gunsten entschied. Dass in Russland, auch unter russischen Juristen, zuletzt kaum noch jemand an die Unabhängigkeit, Aufrichtigkeit und Neutralität des EGMR geglaubt hat, sollte daher niemanden verwundern.
Der Europarat (nicht zu verwechseln mit der Europäischen Union) ist eine internationale Organisation, die 1949 von zunächst zehn westeuropäischen Staaten gegründet wurde und sich als Debattenplattform und Förderer von Menschenrechten und “europäischen Werten” versteht.
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