Von Dagmar Henn
Dem Film der New York Times muss man einfach glauben. Nein, nicht, weil er so gut ist. Sondern weil er nicht funktioniert, wenn man den Glauben nicht schon mitbringt. Wenn man ihn nüchtern betrachtet, findet man keine Antworten, nur neue Fragen.
Als die ersten Bilder von Butscha auftauchten, am 02. April dieses Jahres, war für die westliche Presse sofort klar: ein russisches Kriegsverbrechen! Aber schon damals gab es ein Problem mit der zeitlichen Abfolge. Die russischen Truppen hatten den Ort bereits am 30. März verlassen, und zwischen dem 30. März und dem 02. April rückten nationalistische Bataillone ein. Am 31. März hatte der Bürgermeister von Butscha, einem Ort mit in besten Zeiten 30.000 Einwohnern, ein Video veröffentlicht, in dem er seine Freude über den Abzug mitteilte, aber kein Wort über irgendwelche Verbrechen verlor. Das war von vornherein ein Punkt, der Fragen aufwarf.
Die New York Times beantwortet diese Frage nicht, im Gegenteil, sie verstärkt sie noch. Denn den Todeszeitpunkt der Opfer datiert sie nun bereits auf Anfang März; ohne sich dabei auf Daten von Obduktionen zu stützen. Einen Monat sollen die Toten auf der Straße gelegen haben, ohne zumindest bedeckt zu werden.
Im ganzen Video wird nicht erklärt, wie das sein kann. Tote, die einen Monat im Freien liegen, sehen nicht so frisch aus. Bei Temperaturen unter Null würde an den offen sichtbaren Hautflächen das passieren, was mit Fleisch im Gefrierfach passieren kann. Bei Temperaturen über Null würde der Verwesungsprozess beginnen; die Darmbakterien würden beginnen, den Körper von innen zu verdauen.
Butscha ist keine Großstadt, sondern eine Kleinstadt mit sehr offenem Gelände. Das heißt, neben Hunden und Katzen könnten auch noch Füchse zur örtlichen Fauna gehören; außerdem Krähen und andere Rabenvögel. Es mag gelegentlich passieren, dass eine im Freien liegende Leiche nicht angefressen wird. Aber hier reden wir von einem Dutzend oder mehr, die nach einem Monat noch nicht als Nahrungsquelle entdeckt wurden, obwohl in Orten, die wegen drohender Kriegshandlungen von der Bevölkerung zumindest teilweise verlassen wurden, streunende Haustiere üblich sind.
Es passt einfach nicht. Es gibt genug Aufnahmen von Toten im Freien im Netz, an denen man sich ein Bild machen kann, wie das aussieht. Die Temperaturen in Butscha lagen im März dieses Jahres weitgehend über dem Gefrierpunkt; die Tiefsttemperatur war -1,7 Grad, wenn man den Angaben im Internet trauen darf. Gleichzeitig gab es mehrere Regentage.
Die New York Times erklärt, sie habe die Toten identifiziert. In Wirklichkeit hat sie weitgehend nur Vermisste identifiziert; liefert aber keinen Beleg dafür, dass diese Vermissten tatsächlich mit den gefundenen Toten identisch sind. Dafür bräuchte es auch mehr als Aussagen irgendwelcher Anwohner. Dafür bräuchte es Obduktionen.
Hauptbeleg der NYT sind Telefongespräche, die von Mobiltelefonen der vermeintlichen Opfer geführt wurden. Nehmen wir einmal an, die Gespräche habe es so gegeben. Telefonate russischer Soldaten mit ihren Angehörigen. Das ist nicht unwahrscheinlich, weil es für die russischen Truppen ein Verbot gibt, Mobiltelefone mitzunehmen. Aber ist das ein Beleg dafür, dass der Besitzer des Telefons Opfer eines Verbrechens wurde? Die NYT liefert keinen Beleg dafür, dass nach diesen Telefonaten keine weiteren von diesem Telefon aus stattfanden; damit ist aber nicht ausgeschlossen, dass die betreffenden Soldaten sich das Telefon ganz normal geliehen haben, um zu telefonieren.
Die Handys, die in der Ukraine verwendet werden, unterscheiden sich nicht von jenen, die man in Deutschland nutzt. Das heißt, das Handy muss vor einem Telefonat per PIN oder per Fingerabdruck freigegeben werden. Die Telefonate liegen teils Stunden nach dem angeblichen Moment, an dem die Besitzer dieser Telefone von den russischen Soldaten erschossen worden sein sollen. Es gibt keinen einzigen Bericht, der behauptet, einigen der in Butscha gefundenen Toten fehlten die Daumen. Wie also muss man sich das praktisch vorstellen? Die ganzen Soldaten stehen in einer Schlange, und jeder bückt sich vor dem Telefonat herunter zu der Leiche und schaltet mit deren Daumen das Telefon frei? Eine absurde Vorstellung. Aber anders kann das gar nicht gehen, wenn man die Beschreibung der New York Times ernst nimmt.
Drei Tage nach dem Abzug der russischen Truppen sollen die Einwohner von Butscha sich nicht einmal auf die Suche nach ihren vermissten Angehörigen begeben haben? Außer aus Butscha stammen die einzigen Aufnahmen, auf denen Tote nicht nach kurzer Zeit bedeckt wurden, von den Schlachtfeldern, und selbst dort sind das Aufnahmen aus den ersten Momenten.
Das Einzige, was mit hoher Wahrscheinlichkeit stimmen dürfte, ist die Identifizierung der Einheit, die Butscha besetzt hatte. Aber alles, was diese Einheit mit Verbrechen verknüpfen soll, ist fadenscheinig. Selbst die meisten Aussagen der Anwohner, die als Zeugen gezeigt werden, sind so kurz zusammengeschnitten, dass sie nicht einmal erwähnen, wen sie was tun sahen. “Sie haben meinen Mann mitgenommen” ist immer noch kein Beleg; denn dieser Schnipsel lässt sich beliebig verwenden. Nur wenn es explizit hieße, “die Russen haben meinen Mann mitgenommen”, wäre das zumindest ein Indiz. Doch woher soll der Zuschauer tatsächlich wissen, dass es sich bei der interviewten Frau um eine Anwohnerin handelt? Da muss man der New York Times einfach vertrauen.
Was aber weit schlimmer ist als die Löchrigkeit der Beschuldigungen, die die NYT vornimmt, ist die Tatsache, dass in mittlerweile acht Monaten mit Ausnahme einer Obduktion keine objektiven Ermittlungen bekannt geworden sind, was nahelegt, dass sie auch nicht stattgefunden haben. Und das ist der Punkt, der eigentlich tief beunruhigen sollte. Diese eine Obduktion ergab damals übrigens, dass die untersuchten Toten durch Flechette-Munition starben, alte Granaten, die weit wahrscheinlicher vom ukrainischen als vom russischen Militär verwendet worden sein dürften.
Nicht nur auf die Ergebnisse dieser Obduktion geht die NYT nicht ein, obwohl es ein Leichtes wäre; auch die Frage der weißen Armbinden, die einige der Toten tragen, wird weder aufgeworfen noch gar beantwortet. Weiße Armbinden, die üblicherweise für eine den Russen freundliche Haltung stehen, und die – ebenso wie russische Telefonnummern auf dem Mobiltelefon – bei einer Begegnung mit einem Nazibataillon fatale Folgen haben können.
In den ganzen acht Monaten war Butscha ununterbrochen unter ukrainischer Kontrolle. Es wäre problemlos möglich gewesen, ein internationales Team von Forensikern zusammenzustellen, die Todesursache wie -zeitpunkt wissenschaftlich präzise untersuchen. Es gab nichts, was dagegen sprach, und im Grunde hätten solche Untersuchungen die logische Konsequenz der Beschuldigungen sein müssen, die Anfang April vorgebracht wurden. Seit Monaten bestünde dann auch Klarheit über die Identität der Opfer.
Stattdessen nun ein Filmchen der New York Times. Man könnte ein solches Vorgehen verstehen, wäre das Gebiet umstritten, sodass ein längerer Aufenthalt dort nicht möglich wäre. Es hätte vermutlich nicht einmal die Mittel der NYT überstiegen, einige ukrainische Gerichtsmediziner zu engagieren. Aber statt harter Beweise gibt es zurechtgeschnittene Aufnahmen, bei denen man erst eine Person auf einem Fahrrad, dann einen Panzer sieht, der seine Kanone abfeuert, aber eben nicht, dass die Kanone auf die Person auf dem Fahrrad feuert. Das soll sich der Zuschauer denken, aber es ist nicht zu sehen. Die Teile sind noch nicht einmal auf eine Art und Weise zu sehen, dass diese Schlussfolgerung unvermeidlich ist.
Welchen Schluss legt es nun nahe, dass eine echte Untersuchung nicht stattgefunden hat, obwohl alle Möglichkeiten dazu gegeben waren? Nach acht Monaten bleibt eigentlich nur eines übrig – es besteht kein Interesse an einer wirklichen Untersuchung, weil klar ist, dass das Ergebnis einer solchen Untersuchung nicht zur gewünschten Erzählung passt. Es gibt keine Rechtfertigung für das Ausbleiben dieser Untersuchung, und der Film der New York Times ist kein Ersatz dafür. Er ist nur ein Versuch, eine alte Geschichte ohne wirkliche Belege neu aufzuwärmen.
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