Von Dr. Karin Kneissl
Strukturen verschlanken, Wettbewerb erhöhen, mehr Wahlmöglichkeiten für den Kunden – so lauteten die politischen Slogans zu den Hochzeiten der Liberalisierung in den 1990er Jahren, die mit der Zerschlagung staatlicher Monopole einherging. Die Europäische Kommission hatte das Konzept des “Unbundling” normiert, um die Dominanz von Unternehmen in der Lieferkette zu brechen. “Unbundling” bedeutet, Unternehmensstrukturen zu entflechten. So wurden ziemlich bald im Flugverkehr die Flughäfen von den einstigen nationalen Luftfahrkonzernen getrennt.
In der Energieversorgung sollten die Bereiche Produktion und Übertragung, also Transportwege wie Pipelines und Stromnetze, fortan getrennt sein.
Die Folge war in diesem Fall unter anderem eine große Investitionslücke im Bereich der Übertragung, denn Geld wird immer noch bei der Erzeugung von Energie verdient. Es entstanden Dutzende neuer Anbieter, die die Kundennähe propagierten und sich als effiziente Nachfolger der staatlichen Konzerne ins Spiel brachten. Wie in so vielen anderen Sektoren überschattete buntes Marketing alles andere. Das neue System der Liberalisierung, das zudem im Bereich des gemeinsamen europäischen Strommarkts auf halber Strecke steckenblieb und wenig mit Marktwirtschaft gemein hat, war für Zeiten ohne Probleme gemacht. Es hielt aber bereits im Sommer 2021 nicht mehr den Energiepreiskrisen stand.
Wenn der Stromanbieter insolvent ist
Großbritannien, das noch in Zeiten seiner EU-Mitgliedschaft Wegbereiter in Gesetzgebung und Umsetzung von Liberalisierung war, vom Finanzsektor über die Bahn und Post bis zur Energieversorgung, musste zunächst im öffentlichen Verkehr wieder zurückrobben. Die britische Bahn, einst Vorzeigeunternehmen, scheiterte an der Liberalisierung und dem “Unbundling” von Schiene und Zug. Im Sommer 2021 war die britische Regierung unter dem damaligen Premier Boris Johnson mit Preisspiralen im Erdgasbereich konfrontiert und der Tatsache, dass viele der kleinen “utility companies”, also der Energieversorger, diese Preise nicht an ihre Kunden weitergeben konnten. Sie melden Insolvenz an. In der Folge hatten die Kunden noch höhere Zahlungen, da die Netzübertragungskosten mit dem Wegfall der näher gelegenen Anbieter stiegen.
Mit ähnlichen Problemen ist die Energieversorgung in Deutschland und vielen anderen EU-Staaten konfrontiert. Zudem wurden kommunale Energieversorger zu Akteuren auf Strombörsen und scheitern dort oftmals an den Hedge-Futures-Verträgen, für die große Erdölkonzerne Kohorten von Profis engagieren, die etwas vom “Hedging”, also dem Platzieren von Investitionen, verstehen.
Die französische Regierung machte bereits vor einigen Monaten die Kehrtwende und verstaatlichte kurzerhand den wichtigsten Stromkonzern EDF. Das Prinzip des Bundesstaates in Deutschland zeitigt angesichts der Vielzahl von Akteuren in der Energieversorgung die Grenzen des Föderalismus.
Derzeit verstaatlicht die deutsche Bundesregierung mit teils abenteuerlichen Maßnahmen Firmen, Produktionsstätten und anderes Eigentum russischer Energieversorger. So wurde Gazprom Germania bereits im Sommer unter staatliche Treuhandschaft gestellt. Es folgten weitere Maßnahmen, die als Enteignung ausländischen Vermögens zu qualifizieren sind.
Was wird aus den Energiekonzernen?
In den letzten 20 Jahren benannten sich immer mehr Öl- und Gasunternehmen in Energiekonzerne um. Den Anfang machte BP, was für British Petroleum stand, und nannte sich fortan “Beyond Petroleum”. Die Sonnenblume wurde zum neuen Logo. Ähnlich verhält es sich mit dem teilstaatlichen französischen Konzern Total, der zu TotalEnergies wurde. Wenngleich das Segment der erneuerbaren Energien sehr gerne für Werbezwecke laut propagiert wurde, so verdienten doch alle weiterhin ihr Geld mit den Fossilen. Gerade in diesem Jahr erlaubte das hohe Preisniveau große Gewinne aus Erdöl und Erdgas.
Die Debatte ist heftig, wenn es um die sogenannte Abschöpfung von “Übergewinnen” geht, um wiederum die Kunden dieser Unternehmen zu entlasten. Die Politik steht hierbei hilflos zwischen allen Sesseln und reagiert meist nur mit der Ankündigung staatlicher Hilfen, wenn es zum Beispiel um die Rettung von überschuldeten Energieversorgern geht. Der Konzern Uniper, dessen Verstaatlichungsverfahren derzeit im Gange ist, hat 2022 Milliardenverluste erlitten. Der Hintergrund ist ähnlich wie beim Energieversorger der Stadt Wien und vielen anderen kommunalen Anbietern, dass Beamte und politische Teilhaber von den Turbulenzen am Energiemarkt überfordert waren.
Persönlich rechne ich bereits seit einem Jahr mit einer Welle von Verstaatlichungen, um das Problem der mittleren Energieversorger unter Kontrolle zu bekommen. Ob sich diese Handlungsanleitung auch im kurzen Wege auf diese großen Konzerne übertragen lässt, bleibt abzuwarten.
Nach Jahrzehnten exklusiver Klimapolitik ohne Energiepolitik, die sich um die Energieversorgungssicherheit kümmert, erfolgt nun seit dem April 2021 das böse Erwachen. Die Kernaufgabe der Energieversorger und auch des Staates ist immer noch, Energie zu leistbaren Preisen zur Verfügung zu stellen.
Energiearmut war lange ein Thema der südlichen Hemisphäre. Doch die Liberalisierung des Strommarkts machte den Menschen in Bulgarien und anderen EU-Staaten angesichts der hohen Kosten in einkommensschwachen Gesellschaften zu schaffen. Regierungen stürzten bereits vor zehn Jahren über zu hohe Energiekosten. Nur wenige europäische Regierungschefs begriffen zu einem frühen Zeitpunkt das Risiko der Energiearmut.
Die Verstaatlichung in der aktuellen turbulenten Situation mit einer Verknappung des Angebots durch die Energiekunden und nicht die Energieproduzenten könnte im schlimmsten Fall für noch weitere Verwerfungen sorgen. All die Gründe, warum vor 25 Jahren die Privatisierungen erfolgten, scheinen nun nicht mehr zuzutreffen. Dass die Energieversorgung die Grundlage aller modernen staatlichen Aufgaben bildet, wird sich binnen Kurzem wieder unter Beweis stellen. Nur diesmal wird es auch der Auftakt für viele weitere staatliche Eingriffe in den Energiealltag der Bürger und auch der Unternehmen sein.
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