Von Dagmar Henn
Christine Lambrecht, die deutsche Verteidigungsministerin, ist vermutlich schlicht beleidigt, weil sie nicht auf der Telefonliste stand. Jedenfalls hat sie sich schon am Montag geäußert, also dem Tag, an dem sie hätte angerufen werden können, wenn Russland Deutschland nicht offenkundig längst von der Liste politisch Handelnder gestrichen hätte (es gibt allerdings noch einen weiteren denkbaren Grund, warum Lambrecht nicht angerufen wurde, dazu mehr weiter unten). In Calw, bei einem Besuch beim KSK, hat sie die russischen Warnungen vor dem Einsatz einer “schmutzigen Bombe” durch die Ukraine umgedreht, als Drohungen gelesen und erklärt: “Wir stehen weiter hinter der Ukraine.”
Das wäre natürlich schwierig, sollten die russischen Befürchtungen wahr werden. Schließlich hat die Ukraine den Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen unterzeichnet und wäre auch bei dieser Verwendung radioaktivem Materials vertragsbrüchig. Man hat Kiew schon eine Menge nachgesehen, vom Krieg im Donbass angefangen bis hin zum Beschuss des Atomkraftwerks in Energodar, und bisher hat das westliche Publikum brav noch die wildesten Geschichten geschluckt; der Einsatz einer schmutzigen Bombe wäre allerdings wirklich schwierig zu verkaufen. Und fände er statt, würde er gleichzeitig Russland signalisieren, dass der Westen in diesem Konflikt keinerlei Grenzen mehr kennt. So etwas sollte man sich gegenüber der mindestens zweitstärksten Atommacht gut überlegen.
Dass die deutsche Presse (stellvertretend der Tagesspiegel) die ganze Geschichte nicht ernst nimmt, erklärt sich gewissermaßen von selbst. Alle Gründe, warum man sie ernst nehmen sollte, gehören zu den Dingen, die in den deutschen Medien nicht ausgesprochen und benannt werden. Übrig bleibt dann so etwas:
“Lambrecht nannte die Äußerungen einen ‘unerhörten Vorwurf’ gegenüber der Ukraine, für den es “null Anhaltspunkte” gebe. Es sei wichtig, dass der Westen diese Behauptung ‘deutlich’ zurückweise und zugleich die Botschaft aussende, dass er weiter hinter der Ukraine stehe.”
Wenn man die Geschichte des Donbass-Krieges genauer kennt, weiß man, dass es mehrmals zu ukrainischen Angriffen auf Objekte kam, die größere chemische Katastrophen auslösen hätten können. Die Stirol-Fabrik bei Donezk beispielsweise, oder Lagerstätten von Chlor bei der Wasserversorgung. Der Beschuss des Atomkraftwerks Energodar ist also nur gewissermaßen eine Fortsetzung einer Art der Kriegsführung, die seit 2014 bekannt ist.
Es gibt auch mehrere Äußerungen ukrainischer Politiker, man hätte gerne Nuklearwaffen, bis hin zu dem ausgesprochenen Wunsch, Atombomben auf Moskau zu werfen; um zu belegen, dass das keine Fantasien oder russische Erfindungen sind, genügt im Grunde Wladimir Selenskijs Rede Mitte Februar bei der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der er – unwidersprochen – erklärte, die Ukraine fühle sich an das Budapester Memorandum, mit dem die sowjetischen Atomwaffen (damals übrigens auf US-Betreiben) alle an die russische Föderation gingen, nicht mehr gebunden. Auch wenn sämtliche anwesenden NATO-Politiker so taten, als hätten sie nichts gehört und nicht einmal mit der Wimper zuckten, sollte man doch davon ausgehen, dass sie verstanden haben, was da gesagt wurde.
Wer die täglichen Pressekonferenzen des russischen Verteidigungsministeriums kennt, weiß auch, was das übliche Verfahren ist, wenn auf russischer Seite eine bestimmte Provokation der Ukraine befürchtet wird. Sprecher Igor Konaschenko dürfte im Verlauf der vergangenen Monate bereits ein Dutzend solcher möglicher Handlungen bekannt gemacht haben. Man kann auf dem Telegram-Kanal des russischen Verteidigungsministeriums problemlos die vergangenen Monate durchforsten. Den Ministerien der NATO-Länder wie der jeweiligen Presse dürften diese Veröffentlichungen bekannt sein.
Tatsächlich bezieht sich selbst der Tagesspiegel bei der Meldung über Sergei Schoigus Telefonate auf das russische Ministerium. Aber das traurige Niveau der Berichterstattung, oder die Bereitwilligkeit zur Propaganda, zeigt sich darin, dass die Anrufe bei gleich vier NATO-Verteidigungsministern (Frankreichs, der Türkei, Großbritanniens und der USA, in dieser Reihenfolge) behandelt werden, als wären sie tägliche Ereignisse, sozusagen der übliche Kaffeeplausch, zu dem Schoigu frische russische Vorwürfe mitbringt wie Kuchenstücke.
Dem ist allerdings mitnichten so. Erst kurz zuvor hatte seit Monaten das erste Gespräch mit US-Verteidigungsminister Lloyd Austin stattgefunden. Dass Schoigu gleich drei westliche Kollegen kontaktiert, mit denen lange Funkstille geherrscht hatte, ist ein sehr deutlicher Hinweis darauf, wie ernst die Frage eines Einsatzes einer schmutzigen Bombe in Moskau genommen wird. Dem deutschen (wie vermutlich auch dem restlichen westlichen) Publikum wird dieses wichtige Detail vorenthalten, so wie schon die Aussage Selenskijs in München nicht weiter aufgegriffen wurde.
Die veröffentlichten Reaktionen der Angerufenen sind erwartungsgemäß nichtssagend. Austin soll “jeden Vorwand für russische Eskalation zurückgewiesen und den Wert fortgeführter Kommunikation betont” haben; die Aussage des britischen Verteidigungsministeriums ist ähnlich, interessant ist hier vor allem, dass am 24. Oktober ein weiteres Gespräch, diesmal zwischen den Generalstabschefs Tony Radakin und Waleri Gerasimow, folgte. Die Pressemitteilung des französischen Verteidigungsministeriums benennt als Einzige das Thema des Gesprächs: “Sergei Schoigu sagte, er befürchte einen Anschlag mit einer schmutzigen Bombe durch die Ukrainer auf deren eigenem Gebiet, um Russland die Verantwortung zuzuschieben.”
In Wirklichkeit wird es bei den Telefonaten nicht um den Austausch belangloser Sätze gegangen sein; schon gar nicht, wenn anschließend Gespräche zwischen den Chefs der Generalstäbe stattfinden. Schoigu wird sehr konkrete Daten übermittelt haben. Die Pressekonferenz des russischen Verteidigungsministeriums am Folgetag dürfte einige, aber sicher nicht alle dieser Informationen enthalten haben. Sie wurde vom Kommandeur der ABC-Schutztruppen, Generalleutnant Igor Kirillow, abgehalten.
“Nach verfügbaren Informationen wurden zwei Organisationen der Ukraine direkt angewiesen, eine sogenannte ‘schmutzige Bombe’ herzustellen. Die Arbeiten stehen kurz vor Abschluss. Mehr noch, wir haben Informationen über Kontakte zwischen dem Büro des Präsidenten der Ukraine und Vertretern des Vereinigten Königreiches bezüglich des möglichen Bezugs von Technologien zur Schaffung von Atomwaffen. Die Ukraine hat die für diese Zwecke nötigen wissenschaftlichen und Produktionsmöglichkeiten.”
In der Folge benannte er sowohl die drei aktiven Atomkraftwerke der Ukraine, als auch den in Tschernobyl gelagerten Atommüll und die zwei Minen, in denen die Ukraine bis heute bis zu 1.000 Tonnen Uranerz im Jahr fördert; außerdem das Charkower Institut für Physik und Technologie sowie das Institut für Nuklearforschung an der Nationalen Akademie der Wissenschaften in Kiew, das einen eigenen Forschungsreaktor besitzt.
“Das Kiewer Regime plant, die Explosion dieser Art Munition als außergewöhnlichen Effekt eines russischen taktischen Nuklearsprengkopfes zu tarnen, der hoch angereichertes Uran in seiner Ladung enthält.”
Im Weiteren verwies er auf die False-Flag-Angriffe in Syrien, darunter den in Chan Schaichun, der als Begründung für einen US-Raketenangriff gedient hatte.
“Um es zusammenzufassen, die Ukraine hat ein Motiv, eine “schmutzige Bombe” einzusetzen, wie auch die wissenschaftlichen, technischen und Produktionsmöglichkeiten, um sie herzustellen.”
Diese Tatsachen müssen den Regierungen wie den Militärs aller beteiligten Länder bekannt sein, denn all dies war bereits im Februar gegeben. Natürlich müssen jetzt sämtliche NATO-Länder auf eine Warnung bezüglich einer in Arbeit befindlichen “schmutzigen Bombe” so reagieren, als wäre da nichts; andernfalls würden sie eingestehen, dass der spezielle Militäreinsatz Russlands einen völkerrechtlich legitimen Grund hat, nämlich einen zu befürchtenden Bruch des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen.
Die wirklich entscheidenden Fragen sind andere: Wer im Westen hat einem solchen Projekt zugestimmt, und wie wird sich diese Kraft oder Gruppe weiter verhalten?
Von Korillow wurden “Vertreter des Vereinigten Königreichs” benannt. Das kann, muss aber nicht mit der Tatsache zusammenhängen, dass der britische Verteidigungsminister Ben Wallace in den Tagen vor Schoigus Anruf nach Washington geflogen war, um Austin zu treffen, mit der Begründung, die Kommunikation sei kompromittiert. Nach dem Anruf von Schoigu telefonierte Austin mit Wallace, “um die Verteidigungsbeziehungen zwischen USA und UK und die Bedeutung der transatlantischen Zusammenarbeit zu bestätigen”, so der Text des US-Verteidigungsministeriums dazu. Das könnte mit der Hypothese zusammenpassen, dass die Briten Selenskij zu einem solchen Plan ermutigt haben, das Pentagon aber nicht glücklich darüber war, vor allem nicht, nachdem die Russen es bemerkt hatten, und der britische Generalstabschef musste dann bei Gerassimow den entstandenen Schaden ausbügeln.
Es ist allerdings mitnichten ausgeschlossen, dass in den USA an diesem Punkt das State Department und das Pentagon unterschiedlicher Meinung sind. Das State Department ist fest in den Händen der Neocons, die fürchten, ab den Zwischenwahlen in ihrer Handlungsfähigkeit deutlich eingeschränkt zu sein, wenn die Demokraten die Mehrheit in beiden Häusern verlieren, und sind gerne bereit, für eine bessere Position bei den Wahlen ein paar Tausend Nicht-US-Amerikaner zu opfern (wer daran Zweifel hegt, soll sich noch einmal das Video mit Madeleine Albright mit ihrer Aussage zu den irakischen Kindern ansehen).
Alexander Mercouris und Alex Christoforou von The Duran vermuteten, die ständigen Äußerungen westlicher Politiker (Antony Blinken z. B.) über den Einsatz taktischer Atomwaffen durch Russland seien von der Ukraine schlicht zu ernst genommen und in eine praktische Strategie umgesetzt worden, den Westen erfolgreich direkt in den Konflikt zu ziehen, um eine ukrainische Niederlage abzuwenden.
Eine mögliche Strategie im Gefolge eines solchen Terrorakts wurde von Gonzalo Lira diskutiert; der vermeintliche Gebrauch einer vermeintlichen taktischen Nuklearwaffe würde dann genutzt werden, um mit der jüngst nach Rumänien verfrachteten 101. US-Luftlandebrigade Odessa zu besetzen. Wobei er davon ausging, dass von russischer Seite sehr deutlich signalisiert wurde, die Ukraine sei nicht Syrien, und eine Besetzung von Odessa werde auf keinen Fall hingenommen, was zumindest im Pentagon die Neigung dazu deutlich reduziert haben dürfte.
Aber zurück zum Anfang. Die Liste der von Schoigu Angerufenen ist tatsächlich eigenartig. Es ist keine Liste der Atommächte, denn die Türkei hat keine Atomwaffen. Es kann eine Liste sein, die nach der militärischen Leistungsfähigkeit sortiert ist, auf der Deutschland erst hinter den USA, Frankreich, Großbritannien und der Türkei rangiert. Es kann sein, dass das deutsche Schweigen zum Anschlag auf Nord Stream in Russland zu dem Schluss geführt hat, mit Vertretern der deutschen Regierung zu reden lohne sich ebenso wenig wie mit ukrainischen, weil letztlich ohnehin jemand anderes entscheidet. Aber was, wenn der Grund ein ganz anderer ist? Wenn der britische Anteil an der ganzen Geschichte bei Weitem nicht so groß ist, wie es scheint, und diejenigen, die die Ukraine zu solchem Handeln angetrieben haben, Deutsche sind?
Für eine solche Deutung spräche die Tatsache, dass der erste Anruf dem französischen Verteidigungsminister galt. Frankreich ist das einzige EU-Land, das angerufen wurde, aber die Kommissionspräsidentin ist die Deutsche Ursula von der Leyen, und in der EU spielt Frankreich definitiv die zweite Geige.
Von der Leyen ist allerdings die Frau, die schon 2014, als Verteidigungsministerin, anlässlich der in Slawjansk festgesetzten angeblichen OSZE-Beobachter (die in Wirklichkeit Militärberater waren) versuchte, das KSK zum Einsatz zu bringen (und die ganze Geschichte damals ist äußerst undurchsichtig und wurde nie aufgeklärt). Etwa ein Jahr später vermeldete sie, die OSZE wolle deutsche Friedenstruppen für den Donbass haben und versetzte zweihundert Fallschirmjäger in Bereitschaft; die OSZE wusste allerdings nichts von ihrem Glück und dementierte diese Absichten.
Was, wenn von der Leyen über die Verwandtschaft ihres Mannes mit den Bandera-Nazis in der Ukraine verbunden ist? Ein Johannes von der Leyen war Wehrmachtskommandant von Lemberg. Der Name ist sehr selten, und die Familie ist nicht groß. Was, wenn die Kontakte zu den damaligen Hilfstruppen gehalten wurden? Das wäre sogar ohne die Beteiligung der Bundesregierung vorstellbar.
Während das Motiv der Neocons vor allem die Zwischenwahlen wären, wäre es bei von der Leyen der Versuch, egal auf welche Weise den Konflikt zu einem für Russland möglichst schädlichen schnellen Abschluss zu bringen, um dann unter günstigeren Bedingungen die Nachteile des Sanktionsregimes, die momentan auch die deutsche Kontrolle über Westeuropa in Frage stellen, beenden zu können.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die russische Warnung auf Tatsachen beruht, ist jedenfalls sehr hoch, auch wenn es jetzt nicht geklärt werden kann, wer alles im Westen mit verwickelt ist. Dass die Angerufenen diese Warnung ernst nehmen und angemessen darauf reagieren, gleich, was sie der Presse erklärten, bleibt nur zu hoffen. Wenn nicht, wird das Ergebnis sehr sichtbar sein.
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