Von Dagmar Henn
Die Erosion des Rechts in der Bundesrepublik geschieht schleichend und oft im Verborgenen. Ende vergangener Woche, mit der Verabschiedung der Änderung des § 130 StGB, wurde sie weiter beschleunigt. Und es muss nicht sonderlich überraschen, dass diese Änderung gleichsam im Verborgenen stattfand, die Erweiterung des § 130 StGB an die eines völlig anderen Gesetzes angehängt wurde; auf diese Weise wurden in letzter Zeit schon öfter wichtige Gesetzesänderungen der öffentlichen Aufmerksamkeit entzogen.
Der § 130 trägt den Titel “Volksverhetzung”. Dieser Paragraf fristete jahrzehntelang ein Schattendasein, war eine Art juristische Selbstrechtfertigung, kam aber so gut wie nie zur Anwendung. Denn er ist sehr dehnbar. Kernpunkt dabei ist die Formulierung “in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören”. Was den öffentlichen Frieden stört und was nicht, liegt im Belieben der Staatsanwaltschaften und Gerichte. In der Vergangenheit wurde die Schwelle, was als Störung des öffentlichen Friedens gesehen wurde, sehr hoch gelegt.
Die Äußerungen in einer vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement verantworteten Broschüre, in der die gesamte Gruppe der Bezieher von ALG II zu “Parasiten” erklärt wurde, mit Formulierungen, die eindeutige historische Vorbilder hatten, störten den öffentlichen Frieden jedenfalls nach Auffassung einer ganzen Reihe von Staatsanwaltschaften, bei denen damals Anzeigen deshalb eingingen (ich hatte selbst eine davon gestellt), jedenfalls nicht. Was schon verwundern muss, denn nicht nur war das Pamphlet, das von einer ehemaligen Bild-Redakteurin verfasst wurde, eine üble Hetzschrift gegen die Armen im Lande, es hatte zudem eine Reichweite, die von wenigen anderen Äußerungen übertroffen werden kann – es wurde ausgiebig in sämtlichen Medien zitiert.
In der Vergangenheit war der § 130 also, abgesehen vom Unterpunkt der Holocaustleugnung, ein zahnloser Tiger. Nun wurde der Text des Gesetzes geändert und ergänzt. Begründet wird das damit, dass die Bundesrepublik verpflichtet sei, eine europäische Vorgabe aus dem Jahr 2008 (!!!) umzusetzen, die eine stärkere Strafverfolgung insbesondere rassistischer Vergehen verlange.
Tatsächlich ist das ein Punkt, an dem das deutsche Strafrecht gerne ein Auge oder zwei zudrückt. Allerdings ist es doch etwas eigenartig, wenn man etwas 14 Jahre lang in der Schublade liegen lässt und genau dann hervorzieht, wenn es gerade passend scheint, um auf etwas völlig anderes zu zielen, das weder in der ursprünglichen Version des § 130 noch in der besagten Aufforderung der EU gemeint worden war (außer, man will davon ausgehen, dass bereits diese Vorlage der EU in Wirklichkeit darauf zielte, acht Jahre später die Kriegspropaganda abzusichern).
Das ist der Text der Ergänzung:
“(5) Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Handlung der in den §§ 6 bis 12 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art gegen eine der in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten Personenmehrheiten oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer dieser Personenmehrheiten öffentlich oder in einer Versammlung in einer Weise billigt, leugnet oder gröblich verharmlost, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt gegen eine solche Person oder Personenmehrheit aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören.”
Da ist er wieder, der öffentliche Frieden. Nur, um die aktuelle Skala der “Störung des öffentlichen Friedens” in Erinnerung zu rufen – auf einer Versammlung gesungene Aufrufe, alle Russen zu töten, stellen keine Störung des öffentlichen Friedens dar; ein Plakat, das eine Rentnerin ins Fenster ihrer Wohnung hängte, auf dem “Danke, Putin” stand, allerdings schon.
Nicht der Gesetzestext, aber die praktische Erfahrung der vergangenen Monate belegt, dass bereits Meinungsäußerungen mit sehr geringer Reichweite, wie Kommentare in sozialen Netzwerken durch völlig unbekannte Personen, als Störung des öffentlichen Friedens gewertet werden können, sofern sie dem NATO-Narrativ widersprechen; Äußerungen, die den ukrainischen Nazismus und dessen Verbrechen nicht nur verharmlosen, sondern sogar begrüßen und glorifizieren, haben keinerlei strafrechtliche Folgen. Jede Verherrlichung von Stepan Bandera und seinen Spießgenossen müsste, da es sich dabei um bereits historisch belegte und auch juristisch unter anderem im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess abgeurteilte Verbrechen handelt, danach verfolgt werden.
Die Paragrafen 6 bis 12 des Völkerrechtsgesetzbuches umfassen eine ganze Menge von Handlungen. Dabei geht es nicht nur um das, was auf den ersten Blick als Kriegsverbrechen erkennbar wäre; es geht auch um Plünderungen und um Handlungen, wie sie aus der ukrainischen Kriegsführung weidlich bekannt sind. So z. B. § 11 Absatz 1 Punkt 3, wer “mit militärischen Mitteln einen Angriff durchführt und dabei als sicher erwartet, dass der Angriff die Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte in einem Ausmaß verursachen wird, das außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht”; ein Handeln, das im Donbass seit acht Jahren zu beobachten war und sich mittlerweile auch gegen die Bevölkerung von Cherson und Saporoschje richtet. Und nein, es ist nicht zu erwarten, dass dieser Paragraf jetzt plötzlich gegen jene angewandt wird, die so viele Jahre lang die Verbrechen im ukrainischen Bürgerkrieg verniedlicht, verschwiegen und unterstützt haben.
Der ukrainische Beschuss des Kernkraftwerks von Energodar beispielsweise fiele auch unter § 11 des Völkerstrafgesetzbuches, nämlich unter Absatz 1 Punkt 2: “Wer (…) mit militärischen Mitteln einen Angriff gegen zivile Objekte richtet, solange sie durch das humanitäre Völkerrecht als solche geschützt sind (…), Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten.”
Niemand wird ernsthaft erwarten, dass nun die Strafverfolgung gegen all jene Medien der Mainstreampresse einsetzt, die die ganze Zeit über behaupten, die Russen beschössen sich in Energodar selbst, weil diese Äußerung eine Verharmlosung bzw. Leugnung einer Straftat nach § 11 Völkerstrafgesetzbuch darstellt. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass eine genauere Befassung mit vermeintlichen russischen Kriegsverbrechen wie in Butscha als Leugnung oder Verharmlosung bewertet werden, ist hoch.
Schlimmer noch, das, was bereits heute in der bundesdeutschen Strafverfolgung praktiziert wird, wofür immer die Formulierung von der “Billigung einer Straftat” herhalten musste, ein Vorwurf, der bereits Tausende von Verfahren generiert haben dürfte, wird nun auf eine solidere rechtliche Grundlage gestellt. Das Problem mit der “Billigung einer Straftat” bestand nämlich immer darin, dass ein Angriffskrieg in Deutschland nur eine Straftat darstellt, wenn er durch oder gegen Deutschland begangen wird; somit besteht ein gewisses (wenn auch leider nicht allzu hohes) Risiko, dass diese Grundlage für Strafmaßnahmen von irgendeinem deutschen Gericht zerschossen wird. Mit dieser Gesetzesänderung ist dieses Risiko für alle zukünftigen Verfahren gebannt.
Man stelle sich nun einmal vor, eine der Befürchtungen, die von russischer Seite immer wieder geäußert werden, würde wahr. Wie der Einsatz einer schmutzigen Bombe durch die Ukraine; etwas, auf das die Kiewer Rhetorik sehr klar abzuzielen scheint. Oder ein Beschuss einer Ammoniak-Leitung, die eine örtliche Katastrophe auslösen würde. Oder auch nur ein größerer Treffer im Atommülllager von Energodar.
Auf sämtlichen Kanälen würde dann verkündet, es handele sich um ein russisches Kriegsverbrechen. Und man muss keine Zweifel daran hegen, dass der frischgebackene Paragraf dann breit zur Anwendung käme.
Die Entwicklung, die die Anwendung des Strafrechts in den letzten Monaten genommen hat, belegt einmal mehr, warum es in demokratischeren Zeiten immer mindestens juristische Kritik an sogenannten “Gummiparagrafen” gab, in denen der Anteil der im Belieben stehenden Definition hoch und der Anteil der rigiden rechtlichen Regelung niedrig ist. Eigentlich dürfte keine Aussage belangt werden, die sich auf eine Handlung oder ein Ereignis bezieht, das nicht bereits rechtsgültig nach den Paragrafen des Völkerstrafgesetzbuchs abgeurteilt wurde; das erfordert schon allein der absolut zentrale Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung, nach dem jeder als unschuldig zu gelten hat, bis er verurteilt wurde.
Aber wer glaubt, dass dieser neue Absatz des § 130 friedlich schlummern wird, bis irgendwann die Kriegshandlungen in der Ukraine juristisch bewertet sind, glaubt auch an den Weihnachtsmann. Dieser Paragraf zielt auf jede Abweichung vom offiziellen Narrativ, und zwar noch weit unterhalb der Aussage, der russische Militäreinsatz sei gerechtfertigt, weil er einen Angriff auf den Donbass (und damit einen tatsächlichen Genozid) verhinderte. Schon eigentlich journalistisch selbstverständliche Fragen könnten damit geahndet werden. Und der Spielraum des § 130 geht noch weiter, und das dürfte der eigentliche Zweck sein.
Denn Absatz 5, der neu eingefügt wurde, hat eine Rückwirkung auf Absatz 2: “Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person unter achtzehn Jahren einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) anbietet, überlässt oder zugänglich macht, der zum Hass gegen eine in Absatz 1 Nummer 1 bezeichnete Gruppe (…) aufstachelt.” Die logische Verknüpfung, dass Aussagen, die vom Narrativ abweichen, gewissermaßen per se “zum Hass aufstacheln”, findet sich in Absatz 5. Und man kann nicht leugnen, dass die Propagandazentralen der NATO, nachdem es ihnen nicht gelungen ist, die Darstellung der anderen Seite technisch völlig zu unterbinden, ein Interesse daran haben, nicht nur gegen jene vorzugehen, die entsprechende Texte verfassen und veröffentlichen, sondern auch gegen jene, die sie verbreiten. Nachdem im Falle von Absatz 2 Satz 1 sogar der Versuch strafbar ist, ist damit jedes Schlupfloch für die Wahrheit erfolgreich gestopft.
Die Bemühungen um ein demokratisches Recht, die es in der Geschichte der Bundesrepublik durchaus gab (dabei möchte ich noch einmal an Gustav Heinemann erinnern), folgten immer der Vorgabe, die Formulierung des Rechts müsse so beschaffen sein, dass es selbst bei feindseliger Auslegung keine Beseitigung der Grundrechte ermöglicht. Eine feindselige Auslegung der neuen Variante des § 130 bedeutet das Ende jeder Meinungsfreiheit in Fragen, die die NATO und ihre Kriegspolitik in der Ukraine und gegen Russland betreffen.
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