von Elem Raznochintsky
Weit über zweieinhalb Jahre war ich nicht mehr in Polen. Als ich mit meiner Familie zum 1. Februar 2020 auswanderte und meiner Heimatstadt Berlin endgültig den Rücken kehrte, konnten wir noch nicht ahnen, dass nur wenige Wochen später die Coronakrise ausbrechen würde und die meisten Grenzen hermetisch dicht gemacht werden würden.
Spulen wir aber vor in die Gegenwart. Mein drittes Jahr in Sankt Petersburg läuft und es war an der Zeit, die Familie in Polen endlich mal wieder zu besuchen. Fast alle meine Verwandten leben dort. Nur mein Vater und meine Mutter verweilen noch in Deutschland, kamen aber für unseren kurzen Besuch extra angereist. Immerhin konnte ich einen ihrer Enkel auf dieses Abenteuer mitnehmen. Und so handelte es sich um eine rare Chance eines fragmentierten Familientreffens. Meine Ehefrau und unsere neugeborene Tochter blieben nämlich diesmal leider Zuhause in Russland.
Nach einem eintägigen Zwischenstopp in Berlin ging es weiter in die polnische Hauptstadt. Besonders am Warschauer Zentralbahnhof, Warszawa Centralna, gab es viele Infostände und Anlaufstellen für geflüchtete Ukrainer. An einer der Stellen hing ein Plakat mit der Aufschrift “F*CK PUTIN” in den Farben der ukrainischen Flagge. Auch in der übrigen Warschauer Innenstadt sah ich viele polnische und ukrainische Flaggen gemeinsam gehisst. Ein großer Teil der Außenwerbung ist der Solidarität Polens mit der heutigen Ukraine gewidmet.
Auf einem Hochhaus war ein riesiges, selbst angefertigtes Banner, das etwas deutlicher wurde. Denn darauf war der bekannte Ausspruch “Слава Україні! Героям слава!” (zu Deutsch: “Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden”) zu lesen, der in Polen offiziell jeglicher historisch negativer Konnotationen entledigt wurde. Fragt man heute den durchschnittlichen Polen nach der Herkunft dieser Losung, wird einhellig der Euromaidan (2013–2014) als Ursprung genannt, nicht aber die extrem wichtige Epoche der UPA oder OUN und deren verbrecherischem Vorgehen gegen das polnische Volk während des Zweiten Weltkrieges.
Die Zweitsprache Warschaus
Man würde denken, diese sei Ukrainisch. Ich stand im Supermarkt an der Kasse und half einer ukrainischen Frau mit der Zahlung über ihre neue polnische Bank-App. Auf ihre Initiative hin redeten wir Russisch miteinander und ich übersetzte dann für die polnische Kassiererin, die von dem Durcheinander plötzlich auch technische Probleme mit ihrer Kasse bekam. Es klappte schlussendlich und die Dame eilte mit ihren Einkäufen weiter.
Die allermeiste Zeit hörte ich Russisch auf den Straßen. In den wenigsten Fällen Ukrainisch. Ob auf Behörden – ich war bei mehreren –, im öffentlichen Nahverkehr oder einfach beim Spazieren entlang der Weichsel: Die russische Sprache dominiert unter den aus der Ukraine Zugereisten sichtlich.
Als ich mit meiner Ehefrau im Jahr 2019 in Swinemünde (Świnoujście) zu Besuch bei meinem Großvater war, stellte sich heraus, dass seine Physiotherapeutin aus Dnjepropetrowsk war. Im Gespräch mit uns erklärte die ukrainische Bürgerin, dass “bei uns eigentlich alle nach Russland wollen”. Wohl bemerkt: Das war noch lange vor Beginn der militärischen Sonderoperation im Februar 2022. Jedenfalls, als sie hörte, dass wir zu dem Zeitpunkt wenige Monate vor dem Umzug nach Sankt Petersburg standen, sagte sie mit einer Prise konstruktivem Neid, dass das auch ihr persönliches Traumziel zum Wohnen und Arbeiten ist. Warum sie stattdessen nach Polen gekommen war, schaffte ich nicht mehr zu fragen, weil mein Großvater das zwischen Tür und Angel stattfindende Gespräch mit einer abrupten Verabschiedung beendete.
Wer weiß, wie viele Ukrainer sich in Polen befinden, die, neben ihrer eigentlichen Heimat in der Ukraine, vielleicht noch ganz woanders sein möchten. Und zwar nicht unbedingt weiter westlich. Solch ein Stimmungsbild empirisch zu erfassen ist geradezu unmöglich im jetzigen politischen Klima in Polen. Ähnlich den geflüchteten Syrern in Deutschland, die mindestens seit 2015 dem deutschen Staatsapparat gegenüber beteuern mussten, dass sie ihren Präsidenten Baschar al-Assad verurteilen, um ihren Aufenthalt in Deutschland reibungslos genehmigt zu bekommen.
Das erste Gespräch
Mein langjähriger Freund und angeheirateter Verwandter namens Jakub, der an der Jagiellonen-Universität in Krakau Soziologie und Geografie studiert hat und heute als Psychotherapeut praktiziert, kann auf eine lange Geschichte tiefer Streitigkeiten mit mir zurückblicken. Die Themen betrafen meistens Russland und die Ukraine. Er weiß, dass ich Russland seit 2014 als politischen Akteur in der Welt schätze, es zu verstehen versuche, weiter erforsche und bis heute unterstütze. Gleichzeitig ist er selbst ein überzeugter NATO-Verfechter, EU-Bürger und moralischer Relativist, der einzig und allein in der Causa Ukraine eine klitzekleine, aber kategorische Ausnahme macht. Unsere Gespräche verlaufen immer sehr vorsichtig, da ihm meine Infragestellung westlicher Werte und Errungenschaften stets extrem nahegeht. Er meinte, er habe – anscheinend im vermeintlichen Gegensatz zu mir – an seiner Uni gelernt, wie man einmal etablierte Axiome wieder in Frage stellt. Und tatsächlich war die Krakauer Jagiellonen-Universität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekannt dafür, ein “polnischer Ableger” der sogenannten Frankfurter Schule mit ihrer “Kritischen Theorie” zu sein. Dieses geistige Erbe wirkte bis in die 1990er Jahre fort, die Epoche der Dritten Polnischen Republik, und ist sehr eng mit allen neoliberalen Institutionen der NATO und der EU verbunden.
Wie sehr aber tatsächlich und gründlich Axiome infrage gestellt wurden – außer evidente Plattitüden wie die, dass die römisch-katholische Kirche in Polen nicht mehr die moralisch-intellektuell-historische Deutungshoheit haben sollte – sei dahingestellt. Für diese Einsicht aber braucht es eigentlich keine Steuerzahler-finanzierte Eliteuni-Ausbildung. Leider ist es aber das einzige Axiom, was ich bei meinem teuren Freund infrage gestellt sehe. Bei vielen anderen axiomatischen Annahmen des Materialismus und Naturalismus oder des westlichen Liberalismus ist er sehr dogmatisch, politisch unbeweglich und emotional veranlagt.
Das jüngste Gespräch verlief bedauerlicherweise sehr oberflächlich. Er nahm mich auf ein Bier mit und wollte nur eine klare Stellungnahme von mir erhalten. Nämlich, ob ich Putin und den Kreml derzeit unterstütze, oder nicht. Ich fragte nach, ob er die fundierten Gründe für meine Position erfahren möchte. Er meinte, nein, überhaupt nicht. Also eigentlich wie immer. Ich musste in Gedanken schmunzeln, wenn ich an die Kraft einer zentralisierten “akademischen Bildung” zurückdachte. Eine anschließende weitere intellektuelle Achterbahnfahrt wurde jedoch jäh und vorzeitig gestoppt.
Da, wo ich versuchte, Sachverhalte doch näher zu beleuchten, warf Jakub mir wenig später Sophistik vor. Auch, dass ich allgemein zu viel rede und ihn das sowieso all die Jahre zuvor immer gestört habe. Vorwürfe, die von einem Therapeuten kommen, den man nur alle paar Jahre für wenige Augenblicke zu sprechen bekommt, der selber zum Gespräch aufgefordert hat und bei all dem derjenige mit den Fragen, dem Erkenntnisdurst und dem Klärungsbedarf gewesen ist. Jakub interessieren aber Geopolitik, Geschichte und Kritik an westlichen Institutionen – und der daraus sichtbar werdenden enormen Verbrechen des Westens – nicht. Gleichzeitig war ihm aber immer wichtig gewesen, dass ich aus unseren Gesprächen mit der festen Überzeugung gehe, er sei ein undogmatischer Freigeist, der die Grundfesten der Realität tagtäglich in Zweifel zieht; wohingegen ich ein indoktrinierter “Russland-Versteher” sei, der den Völkermord in der Ukraine unterstützt.
Das zweite Gespräch
Nach Warschau war unser nächster Halt die Stadt Gdynia, an der Ostsee, in der Danziger Bucht. Dort hat uns mein Onkel Paweł herzlich aufgenommen und von Anfang an direkte politische Gespräche mit mir gemieden. Es gab also nicht “das eine Gespräch”, sondern eher über mehrere Tage verteilte rhetorisch-akustische Fetzen, die ab und an erklangen, und in denen er Russland verurteilte, Putin verteufelte und die “russische Welt” als barbarisch hinstellte. Da dies aber nur Feststellungen waren, ohne Nachfrage oder Einladung zum Gespräch, nahm ich sie erst einmal so hin.
Erst als er anfing, mich zu beraten, wie man Russland am besten verlassen könnte, um sich erneut in Polen oder Deutschland niederzulassen, bemerkte ich eine Wirklichkeitskonstruktion, auf die ich irgendwann reagieren musste. Diese bestand darin, dass sich mein Onkel die Tatsache, dass ich mit meiner Familie nun in Russland lebe, irgendwie rationalisieren musste. Die einzige Möglichkeit war für ihn wohl zu glauben, dass ich nicht ganz aus freien Stücken mit meiner Familie in Sankt Petersburg gelandet bin, aber aus meiner “russischen Geiselhaft” einfach keinen Weg zurück in die “westliche Freiheit” sehe. Diese Beobachtung hat mich einerseits amüsiert, aber gleichzeitig auch motiviert klarzustellen, dass ich – ganz im Gegenteil – vollkommen freiwillig in Russland lebe und arbeite. Und nicht nur das, sondern dass ich diese Lebensentscheidung bisher auch keinen einzigen Tag bereut habe. Das ist für meine polnische Verwandtschaft grundsätzlich eine schwer zu verarbeitende, bisher nicht geknackte Nuss und ich kann das gewissermaßen auch nachvollziehen. An Zeit und aufrichtigem Interesse des Gegenübers, meine Beweggründe näher zu erforschen, fehlte es vorne und hinten. So auch meinem Onkel, der zu diesem Thema anschließend zu schweigen begann.
Das dritte Gespräch
Dieses war an einem kleinen See in der malerischen Kaschubei. Dort gab es eine Familienfeier mit einigen Leuten, die ich vorher nicht kannte. Einer von ihnen war ein junger Naturwissenschaftler, der von meiner Familie erfuhr, dass ich in Russland lebe. Aus Neugierde fragte er mich, wie es sich denn ausgerechnet jetzt in Russland leben lässt. Ich meinte, dass alles gut sei, wir uns würdevoll und dankbar über Wasser halten und es uns an nichts mangelt. Sofort begannen wir über Politik zu sprechen.
Er meinte, er sei in einer internationalen Community von Naturwissenschaftlern aktiv, kenne auch einige wertvolle, talentierte Kollegen aus Sankt Petersburg. Er war aber geschockt davon, wie seine wissenschaftlichen Mitstreiter seit Februar 2022 eine prorussische Position einnahmen. Gleichzeitig sei er vollkommen verblüfft gewesen von der “Gehirnwäsche”, die ihnen scheinbar so effektiv verabreicht wurde. Daraufhin habe ich ihm erklärt, dass diese Erklärungsweise für ein eigentlich sehr komplexes, geopolitisch-anthropologisches Problem in Osteuropa vielleicht zu einfach ist. Da bemerkte der Mann erstmals aber friedlich, dass ich eine andere Position vertrete als er. Meine Frage, wie sicher er sich ist, dass nicht auch “wir” (also die polnische Gesellschaft) auf ein bestimmtes Weltbild hin gehirngewaschen wurden, verblüffte ihn.
Wir hatten einen anderen Zuhörer, der sogar die von mir genannte Möglichkeit, dass uns andere Perspektiven fehlen – und wir uns zu sehr auf die Unfehlbarkeit der westlichen Auslegungsweise der Weltpolitik verlassen –, zuließ. Dieser flüchtige Moment von Einsicht, dieses fragile Eingeständnis von Ungewissheit, war mein einziger Lichtblick während der ganzen Reise. Als mein Onkel Paweł dazustieß, erstarb das Gespräch wieder.
Rückblick
Es gab für mich keine wirklichen Überraschungen auf dieser Durchreise, da ich den Diskurs und die Entwicklung Polens aus der Entfernung über viele Jahre hinweg immer aufmerksam beobachtet habe. Aber Vorort zu sein in einer Welt, die man guten Gewissens eine “alternative Realität” nennen kann, ist noch mal eine völlig neue Erfahrungsebene.
Gleichzeitig stimmen mich gewisse Dinge nachdenklich. Wie bereits mehrmals unterstrichen, bräuchte es Zeit, alternative Sichtweisen zu erklären. Aber es braucht auch den Willen des Gegenübers, andere Perspektiven kennenzulernen, und Neugier, um das Gesagte auf Herz und Nieren zu prüfen. An beidem mangelt es in der polnischen Republik derzeit. Es gibt Ausnahmen, aber der Durchschnittsbürger wird an ihnen vorbeigebabysitted. Die polnische Gesellschaft bleibt in weiten Teilen in einem einseitig gelenkten Kriegsrausch, der von der Warschauer Regierung mit wachsender Intensität befeuert wird. In dieser Welt wird von Russland das Bild einer unbeweglichen, bedrohlichen und autoritären Konstante im Osten gezeichnet. Die russischen Zaren, die Bolschewiki, Stalin und Putin werden zusammengeschweißt zu einer amorphen, unveränderlichen Kreatur. Russische und sowjetische Geschichte wird auf grob fahrlässigem Kindergarten-Niveau gehalten und erscheint durch die NATO-Linse verzerrt. Als gebürtiger Pole muss ich sagen: Das Wissen über die russische Geschichte ist extrem vereinfacht, infantil, ohne Gespür oder fehlt meist ganz.
Für die über Dekaden aufgebauten finanz- und gesellschaftspolitischen Probleme Brüssels und Washingtons sind die relevanten polnischen Eliten und ihre Akteure vollkommen blind und taub. Sie ahnen mit keiner Faser, dass der Ukrainekonflikt stellvertretend ist für einen weltweiten Um- und Zusammenbruch der bisher westlich dominierten Systeme und Institutionen. Kaum jemand bereitet sich dort darauf vor. Bei den Polen gelten der “ewige Russe” als Typus und “Anti-Amerikanismus” als Ideologie als die einzigen unmittelbaren Feinde, die jedwede Bekämpfung verdienen.
Meine Reise bestätigte mir noch einmal auf ganz persönlicher Ebene, dass wir heute in einer Ära leben, in der Kontexte, Kausalitäten und Hintergründe ausgeblendet werden, um die selbstverschuldete Konfrontation mit Russland in der Ukraine als Sieger zu erscheinen. Wie werden wir, die Polen, aber angesichts dessen auf eine mögliche Niederlage reagieren?
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