Im Zuge des Ukraine-Krieges mehren sich die Anzeichen, dass sich die Welt in einer Übergangsphase zum Aufbau einer neuen Ordnung befindet. Es scheint, als hätten die alten Mechanismen der unipolaren Weltordnung der US-Amerikaner – wie das Sanktionsregime des Westens – ausgedient, die die US-Weltherrschaft bisher gesichert haben. Zu diesem Anlass hat RT DE ein ausführliches Interview mit dem Geschäftsführer des rechtsorientierten Instituts für Staatspolitik (IfS), Dr. Erik Lehnert, über den Ukraine-Krieg und die Position der rechtskonservativen Intellektuellen zu dieser Krise in Osteuropa geführt.
RT DE: Die Neue Rechte ist in der Ukraine-Frage zerstritten. Während ein Teil der rechten Intellektuellen in dem Kreis um Götz Kubitschek versucht, den Ukraine-Krieg in erster Linie auf geopolitischer Ebene als einen Stellvertreterkonflikt zwischen Russland und der NATO zu thematisieren und damit deutsche Interessen in den Vordergrund zu stellen, versucht ein anderer Teil der Rechten, den Ukraine-Krieg hierzulande in einen Kampf gegen Russland um die “westlichen Werte” umzuinterpretieren. Die letztere Gruppe geht sogar so weit, dass Frank Böckelmann in seinem rechtsorientierten Magazin Tumult zwecks Unterstützung der Ukraine den Terminus “Volkskrieg” benutzt. Wie kommen einige deutsche Rechte darauf, sich auf die Seite der von den USA und deren Verbündeten unterstützten ukrainischen Regierung in Kiew zu schlagen? Wie schätzen Sie die Spaltung der Rechten zur Ukraine-Frage ein?
Wir haben es bei dem Ukraine-Konflikt, der sich spätestens seit 2014 in verschiedenen Intensitätsgraden zu dem gegenwärtigen Krieg entwickelte, mit einem komplexen Phänomen zu tun, das auch für rechte Beobachter vielfältige Möglichkeiten der Parteinahme bietet. Wenn man von völlig abwegigen Forderungen und den Interessen der Großmächte absieht, bleiben folgende legitime Interessen der Konfliktparteien übrig:
Die Ukraine wäre als Staat sofort erledigt, wenn sie nicht auf ihre territoriale Integrität bestünde. Dass man sich dabei helfen lässt, liegt nahe.
Die Russen in der Ukraine müssen sich gegen die Zerstörung ihres Volkstums wehren und können sich dabei auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen. Auch hier wird Unterstützung nicht ausgeschlagen.
Dass sich jede dieser Positionen auch historisch begründen lässt, ist uninteressant. Wenn man will, lässt sich alles begründen. In der deutschen Rechten, deren Verhältnis zu Russland in den letzten Jahren von ziemlich irrationalen Hoffnungen geprägt war, zeigen sich an dem Ukraine-Krieg, vereinfacht gesagt, zwei Haltungen: eine romantisch-völkische und eine realistisch-staatspolitische.
Die erste schlägt sich auf die Seite der jungen Nation Ukraine, in der Hoffnung, dass der Widerstand des ukrainischen Volkes eine Art Vorbildwirkung für andere europäische Völker hat. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle, dass dabei bestimmte ideologische Elemente des ukrainischen Widerstands überhöht werden, da der Blick völlig von der Konstellation in der Westukraine, die sehr anders als im Osten ist, geprägt ist. Sonst würde man über die Tatsache, dass die Ukraine durch die westliche Unterstützung zum Vorkämpfer des Liberalismus gemacht werden soll, nicht so einfach hinwegsehen. Schließlich kann die westliche Berichterstattung, die einen ukrainischen Volkskrieg suggeriert, bei den romantischen Erinnerungen an die deutschen Befreiungskriege anknüpfen. Die Skepsis gegenüber Russland, das sich unverhohlen zur Tradition des Stalinismus bekennt, dürfte schließlich auch eine Rolle spielen.
Diese findet sich auch bei der realistisch-staatspolitischen Fraktion, die durchaus nicht aus Russland-Romantikern besteht. Aber hier werden tatsächlich die geopolitischen Interessen der Großmächte stärker in die Beurteilung einbezogen. In den letzten Jahrzehnten wurde von westlicher Seite nichts unversucht gelassen, in der Ukraine einen Regimechange durchzuführen, um die endgültige Ausschaltung Russlands als Weltmacht zu erreichen. Wer an einer multipolaren Weltordnung Interesse hat, kann sich daher nicht einseitig auf die Seite der Ukraine schlagen, die für die Herrschaftssicherung der Vereinigten Staaten missbraucht wird. Für einige Akteure scheint das aber attraktiv zu sein, da man damit die seltene Gelegenheit bekommt, auch als Rechter einmal auf der “richtigen” Seite zu stehen. Ich bin aber zuversichtlich, dass diese Frage nicht zu einer nachhaltigen Spaltung der Rechten führt, solange alle bereit sind, die Interessen anderer Völker nicht über die des eigenen zu stellen.
RT DE: Nach dem Narrativ der angelsächsischen Welt zum Ukraine-Krieg müsse die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Die Linie der US- und der britischen Regierung stößt jedoch nicht überall in Europa auf Zustimmung. Bundeskanzler Olaf Scholz und Emmanuel Macron drücken sich vorsichtiger aus. Zwar hat auch der deutsche Bundeskanzler mehrfach erklärt, dass Russland den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen dürfe, Außenministerin Annalena Baerbock äußerte kürzlich jedoch sogar, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen werde. Es scheint, dass Scholz abwenden will, Deutschland in einen fremden Krieg zu stürzen. Wie sehen Sie die Lage in der Regierung? Zeichnen sich schon Risse in der Koalition bei der Ukraine-Frage ab?
Die deutsche Regierung besteht zu einhundert Prozent aus Transatlantikern, insofern habe ich da nur wenig Hoffnung, dass sich die Koalition an der Ukraine-Frage zerlegt. Die Nuancen, die sich darin äußern, ob die Ukraine den Krieg gewinnen muss, wird oder sollte, sind womöglich von der Tagesform der Politiker abhängig. Grundsätzlich sollten die Aussagen dazu aber zurückhaltender ausfallen, je mehr Einfluss bzw. Macht die Person hat. Insofern ist die relative Zurückhaltung von Kanzler Scholz vielleicht auch einfach staatsmännisch. Immerhin wird sich Scholz irgendwann mit den Kriegsparteien an einen Tisch setzen müssen, wenn es darum geht, die Nachkriegsordnung auszuhandeln. Dass er deswegen auch mal die Fragen von völlig kriegslüsternen Journalisten patzig beantwortet, macht diesen Bürokraten ja schon fast wieder sympathisch. Aber zurück zur Frage: Ich glaube, dass sich die Koalition viel eher bei der Frage der Energiesicherheit in Deutschland zerlegen wird. Denn immerhin trifft jetzt gerade die ideologisch begründete Umstellung der deutschen Energieversorgung auf sogenannte Erneuerbare Energien mit voller Wucht auf die Rückwirkungen des Embargos, mit dem man eigentlich Russland treffen wollte. Die Preise steigen, Ersatzlieferungen sind nicht in Sicht, das alles klingt nach einem heißen Herbst und einem kalten Winter, der zumindest die SPD zum Handeln nötigen wird, wenn sie nicht noch ihre letzten Wähler vergraulen will.
RT DE: Der Ansturm der Flüchtlinge im Jahr 2015 erwischte Deutschland kalt. Das Land ist in der Flüchtlingsfrage seither tief gespalten. In Deutschland haben sich im vergangenen Jahr 20 Prozent mehr Menschen einbürgern lassen als im Jahr davor. Die meisten von ihnen kamen aus Syrien. Im Zuge des Ukraine-Krieges bildet sich nun eine neue Konfliktzone in der Gesellschaft. Wir beobachteten in der Öffentlichkeit, dass überall Ukraine-Flaggen gehisst wurden, während sich mittlerweile bereits mehr als 850.000 Flüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland registrieren ließen. Der ukrainische Botschafter in Berlin bezeichnete kürzlich in einem Interview mit der FAZ alle Russen als Feinde, und er bekräftigte diese Haltung neuerlich in einem anderen Interview mit dem Spiegel. Viele Russen und selbst Russlanddeutsche fühlen sich plötzlich in Deutschland fremd. Stehen wir vor einer neuen Stufe der Eskalation und einer Spaltung der Gesellschaft? Wie würden Sie die Aufnahme der Flüchtlinge aus der Ukraine im Vergleich zur Flüchtlingskrise 2015 analysieren?
Die Aufnahme fremder Menschen führt unweigerlich dazu, dass sich auf einmal neue Konfliktlinien auftun, die gesellschaftlich umso bedeutsamer werden, je mehr von den Konfliktparteien in ein Land kommen. Pegida ist 2014, also vor der großen Einwanderungswelle, gegründet worden, weil man es satt hatte, dass sich hierzulande Kurden und Türken bekriegen. Ich habe dagegen den Eindruck, dass sich Russen und Ukrainer hierzulande, wenn man einmal vom ukrainischen Botschafter absieht, zivilisierter benehmen. Die Aufnahme der ukrainischen Kriegsflüchtlinge ist auch längst nicht so umstritten wie die der aus dem Nahen Osten im Jahr 2015. Das hängt sicher mit der kulturellen Nähe, aber auch damit zusammen, dass angenommen wird, die Ukrainer würden nach Ende des Krieges wieder in ihre Heimat zurückkehren. Was allerdings für Unverständnis sorgt, ist die Gleichstellung der Ukrainer mit den Deutschen, was die Sozialleistungen betrifft. Das schafft Fehlanreize, für die selbst die gutwilligsten kein Verständnis haben. Hinzu kommt noch eine weitere Merkwürdigkeit, die für Skepsis sorgt: Die Ukraine ist ein großes Land, dessen Territorium nur zum geringen Teil von unmittelbaren Kampfhandlungen betroffen ist.
Es stellt sich daher die Frage, warum die Ukrainer, die aus einem Kampfgebiet evakuiert werden müssen, nicht in einem anderen Teil der Ukraine Aufnahme finden können. Der Flüchtlingsstrom ließe sich meines Erachtens ohne Weiteres auf die Ukraine und notfalls die unmittelbaren Anrainerstaaten beschränken, was zu einer deutlichen Entspannung in Deutschland führen würde. Aber das ist offensichtlich nicht gewollt, sondern hier wird die nächste Tatsache nach dem Motto “Nun sind sie halt da” geschaffen. Was die Diskriminierung von allem, was russisch ist, betrifft, scheinen sich alte Muster zu wiederholen, die darin bestehen, dass es immer einen Sündenbock braucht. Da man Putin nicht habhaft werden kann, nimmt man die Russen in Gänze dafür in Haftung, es sei denn, sie distanzieren sind von ihrem Land. Das erinnert an die Hysterie, die in den Vereinigten Staaten bezüglich der Deutschen und der Japaner herrschte, die man damals kurzerhand inhaftierte.
RT DE: Sie haben ausdrücklich in Ihrer Rede in der 22. Frühjahrsakademie des IfS gesagt, dass Sie in dem Ukraine-Krieg nicht Partei ergreifen wollten, da dieser Konflikt nicht Deutschlands Konflikt sei. Inwieweit ist für Deutschland in diesem Konflikt überhaupt eine neutrale Rolle möglich, mal angenommen, Deutschland könnte überhaupt souverän und unabhängig von einer US-Regierung agieren? Ich frage das, weil wir uns im Zuge des Ukraine-Krieges in einer Übergangsphase zum Aufbau einer neuen Weltordnung befinden und sich zeitlich parallel solche Konflikte wie zwischen China und Taiwan oder zwischen Iran und Israel verschärfen. Wie ist vor diesem Hintergrund überhaupt für Deutschland eine Neutralität möglich?
Deutschland ist derzeit ein treuer Vasall der Vereinigten Staaten und der Zahlmeister der Europäischen Union. Beide Konstellationen sorgen dafür, dass Deutschland nicht auf die Idee kommt, eigene Wege zu gehen. Wir haben keine Atomwaffen und können daher mit vielen Staaten nicht auf Augenhöhe verhandeln. Dass wir nicht über diese Fähigkeit der Abschreckung verfügen, hat historische Gründe. Die Niederlage im Zweiten Weltkrieg sorgt bis heute dafür, dass wir international keine Rolle spielen, die unserer wirtschaftlichen Potenz angemessen wäre. Die Einführung des Euro war der Preis, ebenso ein Preis, den wir für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie die Fortsetzung der Mitgliedschaft in der NATO. Deutschlands Souveränität ist daher ziemlich eingeschränkt und daher sind unsere Möglichkeiten auf dem internationalen Parkett ziemlich überschaubar. Was möglich ist, hat Gerhard Schröder 2002 gezeigt, als es darum ging, Deutschland aus dem Krieg im Irak herauszuhalten. Es gab etwas Geschimpfe von Amerikanern und Briten, aber sonst passierte nichts. Im Gegenteil: Die Gründe für den Einmarsch im Irak gelten heute als konstruiert, Schröders Entscheidung als richtig. Ähnliches wäre auch Scholz heute möglich gewesen. Die NATO wurde nicht angegriffen, es gibt keinen Bündnisfall. Die Unterstützung der Ukraine könnte sich auf humanitäre Notlagen beschränken, der Handel mit Russland und der Ukraine könnte weitergehen. Parallel könnte unentwegt an einem Ausweg aus diesem Krieg gearbeitet werden. Einiges von dem wäre heute schon möglich, auch mit eingeschränkter Souveränität.
Aber mein Plädoyer für die Neutralität hat auch eine persönliche Seite. Wer sich in einem Krieg engagieren will, sollte den Ernstfall nicht aus den Augen verlieren. Im Zweifel ist eine Parteinahme nur dann keine Großmäuligkeit in der Etappe, wenn man als Politiker bereit ist, in diesem Konflikt eigene Soldaten einzusetzen, oder als Bürger freiwillig zur Waffe greift (wenn man nicht muss). Ich war Offizier und immer bereit, meine Heimat und die Interessen meiner Nation zu verteidigen. Im Fall der Ukraine sehe ich weder den einen noch den anderen Grund erfüllt.
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